Schattenjahre (German Edition)
Chirurgen durchschnitt sie alle Hindernisse, die ihr von Behördenkram oder sonstigem Ungemach in den Weg gelegt wurden. Und irgendwie schaffte sie es gleichzeitig – was Sage nie vermochte –, empfindliche männliche Selbstwertgefühle zu schonen.
Liz war eine Pionierin als Karrierefrau in einer Männerwelt, und sie hatte ihr Ziel erreicht, ohne ihre Weiblichkeit zu opfern, andererseits aber auch nie mit den Waffen einer Frau gekämpft, wie es so viele taten. Nie hatte sie maskuline Eigenschaften an den Tag gelegt oder ihre Geschlechtsgenossinnen verachtet, war stets ihren eigenen Weg gegangen und sich selbst treu geblieben. Sie gleicht diesem Garten, dachte Sage überrascht. Auf den ersten Blick vielleicht zu dezent, zu zurückhaltend. Erst wenn man näher hinschaute, bemerkte man die wahre Schönheit, die Perfektion.
Plötzlich sehnte sich Sage nach der Mutter. Sie hatte Angst – nicht nur vor dem drohenden Verlust dieser Frau, die sie eben erst kennen- und schätzen lernte, wie sie sich eingestand, sondern auch vor der eigenen Unfähigkeit, Liz’ Maßstäben und Idealen zu entsprechen …
Die neue Straße mit ihren komplizierten Problemen war irgendwie ein Symbol für alles geworden, was die Mutter-Tochter-Beziehung belastete. Die Beharrlichkeit und Ausdauer, die man allein schon brauchte, um eine Kampagne gegen das Projekt zu organisieren, zählten nicht zu Sages Charakterzügen. Sie besaß andere Talente – nicht geringere, aber eben andere. Eine meisterliche Taktikerin wie die Mutter war sie nun mal nicht. Trotzdem musste sie Liz’ Platz einnehmen und Cottingdean schützen. Wenn sie jedoch versagte …
Schaudernd sah sie vor ihrem geistigen Auge ein künftiges Haus Cottingdean – nicht so, wie es sich jetzt präsentierte, ein von Liz liebevoll erneuertes jahrhundertealtes Gebäude, nicht wie ein Museum gehütet, sondern wie ein Heim mit lebendiger Vergangenheit; nein, die Vision zeigte, wie Cottingdean sich einmal verwandeln könnte, zerstörte Gärten, ein vernachlässigtes Haus …
Sei nicht so dumm, sagte sie sich. Die Straße wird nicht in der Nähe des Hauses verlaufen. Nur das Dorf ist gefährdet. Und die Mutter fühlte sich natürlich auch für das Dorf und seine Bewohner verantwortlich, hielt es für ihre Pflicht, sie alle zu schützen. Das war jetzt Sages Aufgabe.
Sie kehrte zum Schreibtisch zurück, betrachtete geistesabwesend die alte gerahmte Landkarte über dem Kamin, und da fiel ihr etwas ins Auge. Verschiedene Farben markierten die einzelnen Teile des Landes. Was nicht zu Haus Cottingdean gehörte, war dunkelgrau. Und im Norden des Dorfs, direkt neben der für die neue Straße vorgesehenen Baustelle, befand sich ein großer dunkelgrauer Block. Sage studierte ihn und versuchte sich dieses Stück Land vorzustellen.
Irgendwo verwahrte die Mutter modernere Karten. Sage fand eine, ordentlich zusammengefaltet in einer Aktenmappe mit der Aufschrift „Landkarten“ und seufzte ein wenig, alssie sich an die Unordnung in ihren eigenen Schreibtischschubladen erinnerte. Über diese Schlamperei beklagte sich ihre Sekretärin immer wieder, aber Sage mochte das Chaos, das ihr vertraut und tröstlich erschien.
Sie faltete die Karte auseinander und suchte die Grenzen der Ländereien von Haus Cottingdean. Wer immer dieses dunkelgraue Grundstück besaß, würde eine schöne Stange Geld von der Regierung bekommen. Genau dort sollte, wenn sie sich recht entsann, eine der bereits existierenden Hauptstraßen mit der neuen Schnellstraße zusammentreffen. Ein idealer Ort für künftige Industrien, für Entwicklungen, die das Dorf wahrscheinlich verschlingen würden …
Auf der modernen Karte hatte Liz das Grundstück markiert und den Namen der Eigentümerin dazugeschrieben. Agnes Hazelby … Nachdenklich kaute Sage an einem Fingernagel. Die Mutter hatte einmal erwähnt, die ältere Frau sei schwer krank, müsse ihr Land bald verkaufen und in ein Pflegeheim ziehen. War das bereits geschehen? Um das herauszufinden, musste sie mit Liz’ Anwalt sprechen. Das erinnerte sie daran, dass irgendjemand früher oder später – Faye oder sie selbst – Henry Brading in der Spinnerei aufsuchen sollte. Er war durchaus fähig, den Betrieb allein zu leiten, hatte sich aber besorgt nach Liz’ Befinden erkundigt. Und wie Sage wusste, hätte die Mutter ihn an ihrer Stelle längst beruhigt.
Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer des Anwalts. Mrs Hazelby hatte ihr Land tatsächlich schon verkauft. Wem es jetzt
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