Schattenjahre (German Edition)
Vielleicht sollte sie doch etwas anderes tun.
Das Problem der neuen Straße beschäftigte sie zusätzlich. Die Dorfbewohner würden sich wohl kaum gegen die einflussreichen Leute durchsetzen können, die ihre Pläne so zielstrebig verfolgten. Wenn man die Sache aus einem etwas distanzierteren Blickwinkel betrachtete, war es klar, dass die Straße irgendwann entstehen musste und auf alle Fälle Ärger machen würde, wo immer sie auch verlaufen würde. Was Cottingdean betraf, konnte sie das Dorf umgehen und jenseits der Rieselwiesen drum herumführen. Die Kosten eines solchen Umwegs wären ein Faktor, der dagegen sprechen würde. Es drehte sich nicht nur um die längere Strecke, sondern auch um die Notwendigkeit, das Sumpfland zu entwässern.
Sie stand auf, ging zum Schreibtisch ihrer Mutter und griff nach der Aktenmappe, die sie vorbereitet hatte und die unter anderem auch Zeitungsausschnitte enthielt, von Liz gesammelt. Die Artikel handelten von Bürgerinitiativen anderer Landbewohner, die gegen ähnliche Bauvorhaben protestiert hatten, teils mit Erfolg, teils nicht. Bedauerlicherweise waren die Misserfolge in der Überzahl, obwohl die Menschen immer umweltbewusster wurden und immer verbissener gegen ökologische Schäden kämpften.
Sage hatte sich eine Landkarte vom ganzen County gekauft, in großem Maßstab, sie kopiert und dabei nur die wichtigen Städte und Straßen eingezeichnet. Lächelnd rollte sie die Kopien auseinander und legte sie auf ihr Reißbrett. In der Schule hatten die Lehrer geklagt, sie besitze zwar einen scharfen Verstand, sei aber zu faul, ihn zu gebrauchen. Sie selbst gab die Schuld eher den Lehrern, denen es nicht gelungen war, sie zu motivieren. Sobald man sie herausforderte … Sie schnitt eine Grimasse angesichts ihrer komplizierten, schwierigen Persönlichkeit. Oft war ihre Begeisterung für irgendetwas geweckt worden, um dann schnell wieder zu verfliegen. Schließlich hatte sie sich trotzdem gezwungen, ein Projekt zu beenden, mochte es ihr auch noch so langweilig erschienen sein. Davor war ihr Lebensweg von den Fragmenten unzähliger rasch aufgeflammter und wieder erloschener Interessen gesäumt worden.
Diese Unfähigkeit, diese oder jene Dinge bis zum Ende zu verfolgen, einen einmal eingeschlagenen Kurs beizubehalten, war ein fataler Charakterfehler. Erst durch die Erkenntnis, wie befriedigend es sein konnte, eine Aufgabe zu vollenden, hatte sie diesen Makel bekämpft.
In den letzten paar Jahren hatte sie sich sehr geändert, war viel reifer geworden – in manchen Belangen, in anderen nicht, wie sie sich wehmütig eingestand. Einige Teile ihres Wesens wurdenimmer noch von der rebellischen, chaotischen alten Sage beherrscht.
Sage – welch ein seltsamer Name … Er bedeutete „die Kluge“. Hatte die Mutter ihn gewählt, in der Hoffnung, er würde die mutwillige Persönlichkeit der Tochter beeinflussen? Wohl kaum. Damals konnte Liz noch nicht gewusst haben, mit was für einem Kind sie gestraft werden sollte …
Hatte sie die zweite Schwangerschaft ebenso willkommen geheißen wie die Geburt Davids? David – nicht Edwards Sohn, aber von diesem genauso geliebt wie von der Mutter – nicht wegen seiner Herkunft, sondern wegen seines Charakters.
Hing die Distanz, die der Vater stets zur Tochter gewahrt hatte, mit der Art ihrer Zeugung zusammen? Sie war durch ein Wunder der modernen Medizin entstanden, nicht durch das Mysterium der körperlichen Vereinigung von zwei Menschen. Zu irgendeinem Zeitpunkt musste sie ein Wunschkind gewesen sein. Das galt vor allem für die Mutter, die sich immerhin entschlossen hatte, sie zu empfangen.
Rastlos wanderte Sage in der Bibliothek umher, dann runzelte sie die Stirn, als sie an einem Fenster stehen blieb und in den Garten blickte, zum Lieblingsplatz ihrer Mutter. An diesem Tag schien keine Sonne, das sanfte Grau des Himmels schien mit den gedämpften Blumenfarben zu verschmelzen.
An diesem Fenster hatte sie schon oft gestanden, erbost hinausgestarrt und einer sanften Lektion ihrer Mutter über diese oder jene Versäumnisse gelauscht. Aber nun glaubte sie, den Garten das erste Mal zu sehen. Sie bewunderte die perfekte Harmonie der Lila-, Rosa-, Blau – und Weißtöne. Wie hatte Liz jemals Zeit gefunden, um eine solche Vollkommenheit in Farbe und Form zu erreichen, und sich die dafür benötigten Kenntnisse angeeignet? Sie war unglaublich begabt – stark und entschlossen, wenn es um Geschäfte ging. Mit der Präzision eines meisterhaften
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