Schattenjahre (German Edition)
Gestalt annahmen, erkannte sie unbehaglich, dass gewisse alte Narben noch nicht restlos verheilt waren. Es würde ihr Spaß machen, die Beleidigungen zurückzugeben, die Daniel ihr einst so bitter ins Gesicht geschleudert hatte, ihn mit kalter Verachtung zu strafen, genau den gleichen arroganten moralischen Standpunkt einzunehmen wie er damals. Ja, das würde sie genießen. Und vielleicht brauchte gar keine öffentliche Schlammschlacht stattzufinden. Möglicherweise genügte die Mitteilung, die Bürgerinitiative habe gewisse Informationen und könne Stimmung gegen ihn machen.
Andererseits kannte sie ihn sehr gut, auch wenn die Beziehung schon fünfzehn Jahre zurücklag. Doch sie verschloss die Augen vor der Tatsache, dass er sich einem solchen Druck keinesfalls bereitwillig beugen würde. Es konnte nicht schaden, ihn anzurufen, ein Treffen vorzuschlagen, die Lage zu sondieren – und ihn vor allem wissen zu lassen, sie habe herausgefunden, wem jenes Stück Land gehört.
Camilla kündigte an, sie wolle ausreiten, und Sage nickte, dann suchte sie aus den Unterlagen ihrer Mutter die Telefonnummer von Daniels Londoner Büro heraus.
Während sie die Nummer wählte, verkrampfte sich ihr Magen. War sie nervös, weil sie mit Daniel reden würde? Lächerlich. Sie konnte sich nicht entsinnen, wann sie … Eine kühle, geschäftsmäßige Frauenstimme unterbrach Sages Gedanken. Sage nannte ihren Namen, fragte nach Daniel und fügte hinzu: „Ich möchte mit ihm über die neue Straße reden …“
„Sage? Was kann ich für dich tun?“
Dass sie sofort mit ihm verbunden wurde, verwirrte sie ein wenig. Aber viel beängstigender war das vertraute Gefühl, ihn ihren Namen aussprechen zu hören – als hätte sich ein verborgener Teil ihrer Seele stets genau an dieses Timbre erinnert. Das ärgerte sie, insbesondere, weil von Scotts Stimme nicht einmal ein schwaches Echo in ihrem Gedächtnis hängen geblieben war. „Wir sollten uns treffen, Daniel.“
Sein Schweigen trieb ihr das Blut in die Wangen, als hätte sie ihm ein unsittliches Angebot gemacht. Fest umklammerten ihre Finger den Hörer, sie vergaß alle taktischen Erwägungen und fauchte: „Es geht nur um Geschäfte, Daniel.“
„Natürlich“, entgegnete er in höflichem Ton, aber sie hätte schwören können, dass er sich amüsierte.
Du Närrin, tadelte sie sich selbst. Wie kannst du so etwas Idiotisches sagen? Worum sollte es wohl gehen, wenn nicht um Geschäfte?
„Was willst du mit mir besprechen?“, fragte er.
„Wir – wir müssen uns sehen. Am Telefon kann ich dir das nicht erklären.“ Was war eigentlich los mit ihr? Sie führte sich auf wie ein Teenager, der sich mit einem heimlich angebeteten Jungen verabreden will. Wütend über sich selbst, musste sie die Versuchung bekämpfen, einfach aufzulegen und ihr Vorhaben aufzugeben. Typisch für mich, dachte sie bitter, einfach loszupreschen, ohne vorher einen Plan zu schmieden … Ihre Mutter hätte sich Notizen gemacht, sorgfältig überlegt, was sie sagen würde und was nicht, erst einmal nur einen Köder ausgeworfen und nichts vorzeitig verraten, sondern abgewartet, wie die Gegenseite reagieren würde. Aber ich bin nun mal dumm und impulsiv, gestand sich Sage erbost ein.
Wieder entstand eine ausdrucksvolle Pause, dann erwiderte Daniel: „Ich verstehe … Nun, morgen habe ich eine halbe Stunde Zeit. Wenn du in mein Büro kämst …“
In sein Büro? Niemals. Auf seinem Terrain wollte sie nicht mit ihm verhandeln, das würde seine Position nur stärken. „Tut mir leid, das ist unmöglich. Meine Schwägerin ist gerade nicht da, und ich muss in ständiger Verbindung mit dem Krankenhaus bleiben.“ Das stimmte nicht ganz, aber eine bessere Ausrede fiel ihr nicht ein.
„Hm – und was du mit mir bezüglich der neuen Straße erörtern willst, ist vermutlich dringend – etwas, das du deinem Komitee nicht überlassen willst?“
Seine Worte klangen so zuvorkommend, so verständnisvoll. Warum fühlte sie sich dann plötzlich bedroht, fast ausgeliefert? „Du wirst bald feststellen, dass es besser ist, wenn wir unter vier Augen darüber diskutieren, Daniel“, entgegnete sie und ignorierte eine warnende innere Stimme. Dann fügte sie hinzu, wobei sie hoffte, einen ebenso lässigen Ton anzuschlagen wie er: „Das würde uns beiden Zeit ersparen.“ Erst eine geheimnisvolle Andeutung, dann eine kleine Abschwächung – so machte man das doch, oder? Sie besaß wenig Erfahrung in solchen Dingen, die gegen alles
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