Schattenjahre (German Edition)
Täuschungsmanöver, ihre Neigung vorgeworfen hatte, andere für ihre Zwecke zu benutzen.
Sie ging gerade wieder rastlos umher, als Camilla in die Bibliothek kam. „Ist Ma noch nicht da? Komisch … Normalerweise ist sie mit Gran um diese Zeit längst wieder daheim. Glaubst du, ihr ist was passiert?“, fragte sie, nach außen hin nonchalant, aber Sage sah die Angst in den Augen ihrer Nichte. Wie sie voller Mitleid erkannte, war das Mädchen seit Liz’ Unfall verletzlich und unsicher.
„Bestimmt ist alles okay. Sie wurde wahrscheinlich aufgehalten – von Leuten, die sich nach Mutter erkundigten … Wo finden diese Frauenversammlungen eigentlich statt?“ Nur zu gern ließ sich Sage vom Thema Daniel Cavanagh ablenken. Warum musste es ausgerechnet seine Firma sein, die diesen Teil der Straße bauen sollte? Hätte sie nicht mit ihm, sondern mit einem Fremden zu tun, würde es ihr leichter fallen, Liz’ Erwartungen zu erfüllen.
„Das weiß ich nicht.“ Camilla runzelte die Stirn. „Keine Ahnung … Ma und Gran reden nie darüber.“
Sage beobachtete sie neugierig. Wäre Faye eine andere Frau und bei diesen Trips nicht immer von Liz begleitet worden, könnte man aufgrund dieser Heimlichtuerei annehmen, sie träfe sich mit einem Liebhaber. Aber warum fand sie es so unvorstellbar, dass ihre Schwägerin eine Affäre hatte? Doch nicht, weil Faye ihre Schönheit versteckte, sich langweilig kleidete und kaum Make-up benutzte? War sie so dumm, sich einzubilden, die Männer würden nur Frauen bevorzugen, die sich um eine attraktive äußere Erscheinung bemühten?
Sie kannte genug Frauen, die unscheinbar wirken mochten und trotzdem jenes gewisse Etwas besaßen, das die Männer anzog wie das Licht die Motten. Aber diesen unverkennbaren Sex-Appeal strahlte Faye nicht aus. Sie hatte jung geheiratet, ein Kind bekommen. Natürlich wusste ein Außenseiter nie, was wirklich in einer Ehe vorging – doch Sage bezweifelte, dass ihr Bruder der Typ gewesen war, der seiner Frau im Intimbereich grässliche Dinge angetan und ihr auch noch nach seinem Tod unüberwindliche Angst vor neuen sexuellen Beziehungen einflößte. Faye hatte ihn geliebt, wollte keinen anderen an seine Stelle setzen, nie wieder heiraten – aber in sexueller Hinsicht …?
Eine reife Frau musste sich selbst belügen, wenn sie glaubte, es wäre unmöglich, sexuelle Wünsche zu verspüren, ohne einen Mann tief und innig zu lieben. Und Sage war immer stolz auf ihre Ehrlichkeit gewesen.
Doch mit Faye konnte sie sich nicht vergleichen. Und der Gedanke, die Schwägerin würde sich heimlich davonstehlen, um in die Arme eines Liebhabers zu sinken, war absurd. Warum hatte sie dann das sonderbare Gefühl, hinter diesen allmonatlichen Fahrten müsste mehr stecken, als es dem Anschein entsprach?
Sie musterte ihre Nichte Camilla, sie sah immer noch besorgt aus, und Sage versuchte, sie zu beruhigen. „Deine Mutter wurde sicher nur aufgehalten. Schlechte Neuigkeiten verbreiten sich schnell. Wenn sie einen Unfall erlitten hätte …“ Sie sah, wie sich das Mädchengesicht verzerrte, und fügte energisch hinzu: „Dann wüssten wir längst Bescheid.“ Wie erstaunt sie war, weil Faye sie nicht über ihre Pläne informiert hatte, verschwieg sie. Und die Schwägerin hätte eine Nachricht hinterlassen sollen, wo man sie notfalls erreichen konnte, eine Adresse oder Telefonnummer.
Aber Faye war kein Kind, sondern eine erwachsene Frau, und Sage hatte nicht das Recht, ihr Vorschriften zu machen und ihr nachzuspionieren.
„Was ist das?“ Camilla zeigte auf die Landkarte. „Ich wollte feststellen, wer dieses Grundstück hier gekauft hat“, erklärte Sage und wies auf den dunkelgrau markierten Teil der alten Karte über dem Kamin.
„Oh … Gran wollte es kaufen, als es versteigert wurde.“
„Ich weiß.“ Falls Daniel Cavanagh Wohnhäuser in diesem Gebiet bauen wollte, würde er sich umso entschiedener gegen eine Änderung der geplanten Straßenroute wehren. Und Miss Ordman würde seinen Standpunkt mit Nachdruck vertreten. Andererseits konnte eine gut organisierte Kampagne dem offenbar untadeligen Ruf seiner Firmen empfindlich schaden.
Sage rümpfte die Nase. Sicher würde ihre Mutter eine rufmörderische Publicity ablehnen und als ihrer unwürdig bezeichnen. Aber was hatte denn Daniel getan? Jenes Land gekauft, bevor irgendetwas entschieden worden war. Wenn man siegen wollte, musste man manchmal mit den gleichen Waffen kämpfen wie der Gegner. Während diese Gedanken
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