Schattenjahre (German Edition)
motivierte, sein Seelenleben analysieren zu können. Im Gegensatz zu den meisten Männern widerstrebte es ihm nicht, sich selbst besser kennenzulernen, und er ignorierte niemals seine Intuition. Warum sollte er jetzt damit anfangen?
Der Schreibtisch stand zwischen den beiden hohen Fenstern und dem Kamin. Über dem Sims hing ein Porträt vom zweiten Ehemann seiner Mutter, Robert Cavanagh, der bei der Hochzeit dem fast erwachsenen Daniel seinen Nachnamen gegeben hatte. Das Bild war erst nach seinem Tod entstanden, nach der Vorlage einiger Fotos, vom Sohn in Auftrag gegeben. Es wirkte sehr naturgetreu.
Seltsam, wie sehr er Robert immer noch vermisste … Ihre Lebenswege hatten sich nur für kurze Zeit gekreuzt, doch Daniel war davon nachhaltig beeinflusst worden, ebenso wie von dem kurzen Kampf mit Sage. Diese beiden Ereignisse bildeten die wichtigsten Angelpunkte seiner Vergangenheit.
Während er Robert Cavanaghs Porträt betrachtete, überlegte er, was dieser Mann vom neuen Trend in der Bauindustrie halten würde, immer mehr Muskeln spielen zu lassen. Das galt für kleinere Unternehmen ebenso wie für größere, für die Erbauer von Eigenheimen wie für die Giganten, die neue Straßen anlegten. Daniel betätigte sich in beiden Branchen.
Die von Robert geerbte Firma war verstaatlicht worden und längst nicht mehr Daniels Privatangelegenheit, eine Entwicklung, die sich aus der Marktlage ergeben hatte, aus der Gefahr, von Großbetrieben verschluckt zu werden. In seiner Position als Aufsichtsratsvorsitzender der neuen Firma in öffentlicher Hand hatte er in vielen Belangen den Kontakt zur Realität der Bauindustrie verloren. Hauptsächlich verbrachte er seine Zeit mit oft sehr emotional geführten Besprechungen. Wenn es um den Bau neuer Straßen ging, hatte jeder wunderbare Ideen, jeder sah die Notwendigkeit solcher Schnellstraßen ein, jeder wollte sie benutzen – aber niemand mochte in ihrer Nähe wohnen.
Die Route für diesen neuesten Teil des Straßennetzes war besonders umstritten, und auch Daniel hegte immer noch gewisse Zweifel. Er schnitt eine Grimasse, als er bemerkte, dass er auf seiner Löschblattunterlage kritzelte. Dann wurde ihm bewusst, was die Skizze darstellte, und er hob die Brauen. Die Umrisse eines alten, traditionellen, E-förmigen Hauses … Angewidert warf er den Bleistift beiseite. Ich bin schlimmer als ein Baby mit einem Schnuller, dachte er ärgerlich. Suchte er Trost bei einer solchen Zeichnung? Was war los mit ihm? Er fürchtete sich doch nichtvor der Begegnung mit Sage?
Abrupt stand er auf und trat vor das Porträt. Während des Winters brannte immer ein Feuer im Kamin, zumindest glühte darin die moderne Errungenschaft, die Flammen vortäuschte. Im Sommer stellte dieselbe Gärtnerei, von der die Blumenkästen an den Fenstern bepflanzt wurden, eine große Vase hinein. Die füllte man täglich mit frischen Blumen.
Er musterte das rustikale Arrangement, seine Augen verengten sich und ließen das schmale Gesicht härter erscheinen. Seine Mutter hatte frische Blumen geliebt. Nicht, dass sie damit verwöhnt worden wäre, bis …
Lag es an seiner Mutter, dass er sich geweigert hatte, die Wahrheit über Sage zu akzeptieren? Sekundenlang schloss er die Lider, dann kehrte er zum Schreibtisch zurück und drückte auf den Knopf an der Sprechanlage. Als sich die Sekretärin meldete, erklärte er: „Für heute mache ich Schluss, Heather. Ich bin in der Wohnung – aber rufen Sie nur in wirklich dringenden Fällen an. Natürlich dürfen Sie auch früher gehen.“
Die Wohnung umfasste die beiden oberen Stockwerke des mittleren Hauses und konnte nur mit einem Privatlift erreicht werden, diskret in einem Winkel der achteckigen Eingangshalle versteckt, oder über eine Treppe hinter einer vermeintlichen Täfelung.
Daniel benutzte die Treppe und betrat einen Korridor mit cremefarbenen Wänden und alten Stuckornamenten. Ein kostbarer antiker Teppich – bei einer Nachlassversteigerung auf einem Landsitz erworben, lange bevor auch andere Leute den Wert solcher Gegenstände erkannt hatten – schmückte den polierten Boden.
Seine Wohnung war mit Antiquitäten eingerichtet, die er auf ähnliche Weise erstanden hatte. Die Salonfenster gingen auf die Bäume des kleinen Vorgartens hinaus. Hinter diesem Raum lag ein Esszimmer, groß genug für Einladungen. Von der angrenzenden Küche führte eine Tür zum Dachgarten.
In Daniels Apartment wohnte keine Haushälterin. Er war lieber allein. Wenn er Gäste
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