Schattenjahre (German Edition)
erwartete, engagierte er einen Partyservice. Und keine der Frauen in seinem Leben hatte mehr als ein paar Nächte in seinem Schlafzimmer verbracht, keine war jemals aufgefordert worden, bei ihm einzuziehen. Seine sexuellen Bedürfnisse hielten sich in vernünftigen Grenzen.
Er mochte Frauen, genoss ihre Gesellschaft, die Gespräche mit ihnen, ihre Persönlichkeiten und Gedanken genauso wie ihre Körper. Wenn es an Sensationen mangelte, veröffentlichten die Klatschkolumnisten der Zeitungen hin und wieder kurze Artikel über seine neuste Begleiterin und spekulierten, ob er wohl diesmal heiraten würde. Er lehnte die Ehe keineswegs ab, ihr theoretischer Sinn gefiel ihm sogar. Aber in der Praxis gab es so viele Unzulänglichkeiten. Er hasste Scheidungen, vor allem, wenn Kinder darunter leiden mussten.
Im Salon schlenderte er zur Bücherwand mit den kleinen eingebauten Schränken, öffnete einen, nahm eine Whiskyflasche und ein Glas heraus. Dann stellte er beides wieder zurück und schloss nachdrücklich die Schranktür. Um seinen Durst zu löschen, holte er eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank in der Küche.
Für einen Mann von siebenunddreißig, der unzählige Stunden an Konferenztischen verbracht hatte, war er bemerkenswert fit. Ein ausgedehntes, anstrengendes Fitnesstraining misshagte ihm, er schwitzte weder am Hometrainer, noch joggte er durch den Hydepark. Aber in seiner Freizeit hielt er sich meistens auf dem Land auf, ritt aus, ging spazieren und benutzte zwei- oder dreimal pro Woche den Swimmingpool in einem nahe gelegenen Fitnesszentrum.
Er zog das Jackett aus, musterte kurz die harten Oberarmmuskeln, die sich unter dem feinen Baumwollstoff seines Hemds abzeichneten, und ging mit seiner Mineralwasserflasche in den Dachgarten. Dort stellte er das Glas auf die Balustrade und blickte über die Londoner Dächer hinweg.
In einem Slum von Liverpool aufgewachsen, hatte er sich früher nie vorstellen können, dass er einmal in einem solchen Luxus leben würde. Aber seine Mutter hatte schon immer schöne Dinge geliebt. Oft erzählte sie von den herrlichen Möbeln in den Häusern, wo sie sauber machte, von ihren reichen Arbeitgebern, und er spürte in hilfloser Verzweiflung, wie unglücklich sie war – nicht nur, weil sie in keinem dieser wunderbaren Häuser wohnten.
Sie stammte aus Wales, eine hübsche dunkelhaarige Frau aus einem grünen Tal, mit einer melodischen, zu Herzen gehenden Stimme. Der Vater war ein großer Bär von einem Mann, der arbeitete, wann er eine Gelegenheit dazu fand, und sich ansonsten im Pub betrank. Daniel, daseinzige Kind, erfuhr von der Mutter, wie die Eltern sich kennengelernt hatten. Der Vater war bei Straßenbauarbeiten in ihrem heimatlichen Tal beschäftigt gewesen und nach der Hochzeit mit ihr nach Liverpool gezogen, wo seine Familie seit zwei Generationen lebte.
Ursprünglich stammte die Familie aus dem County Cork, und trotz der Jahre in Liverpool hielt sie eigensinnig an irischen Traditionen fest. In einem schäbigen Haus nahe dem Hafen hatten Daniels Großeltern sieben Kinder aufgezogen, eine lärmende, ungehobelte Bande von Ryans, die nacheinander aus dem heimatlichen Nest geflogen waren, um zu heiraten und ihrerseits weitere Ryans zu produzieren.
Manchmal glaubte Daniel, Liverpool würde ausschließlich von seinen Vettern und Cousinen bevölkert. Aber er war nicht so wie sie. Das hing irgendwie mit der walisischen Herkunft seiner Mom zusammen. Die anderen hatten, im Gegensatz zu seinem Vater, nur gute irische Mädchen geheiratet. Er fühlte, dass sich seine Familie von den Angehörigen des Vaters unterschied, obwohl das in seiner Gegenwart nie ausgesprochen wurde. Zum Beispiel schaute Nan Ryan seiner Mutter nie in die Augen. Und alle Onkel und Tanten hatten mehrere Kinder, seine Eltern nur eins.
Aus irgendeinem Grund glaubte Daniel, die Verantwortung für diesen Makel zu tragen. Und deshalb würde der Vater ihn auch nie in den Arm nehmen, so wie es Onkel Liam und Onkel Joe mit ihren Jungs taten. Eins wusste er jedenfalls ganz genau – für einen Ryan war es eine Schande, nur ein einziges Kind zu bekommen. Seine Mutter müsste es wohl auch spüren. Warum sollte sie sich sonst so sehr verändern, wann immer sie einen Sonntagsbesuch bei Nan abstatteten? Wenn sie mit Daniel allein war, erschien sie ihm manchmal traurig, aber oft lachte und sang sie auch. Oder sie erzählte ihm mit ihrer sanften walisischen Stimme Geschichten von Drachen und Helden. Dann wurden seine
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