Schattenjahre (German Edition)
betrachtete es nicht als seine Aufgabe, diese Frau zu schützen. Dazu war sie selbst durchaus imstande.
Sage kam nie in das kleine Haus, und das ärgerte ihn. Stets verabredete sie sich anderswo mit seinem Freund, der noch nie eine Nacht mit ihr verbracht hatte. Wäre er selbst ihr Liebhaber – würde er sie abends im Bett allein lassen und nach Hause gehen? Wohl kaum.
Wenn er ihr Liebhaber wäre – aber das war er nicht. Sie liebte Scott, zumindest bildete sie sich das ein.
Vier Tage nach der Rückkehr aus Cottingdean erhielt Scott ein Telegramm aus Australien. Ein Notfall auf der Schafranch erforderte seine sofortige Heimreise. Wie Daniel wusste, fand der Freund einen akademischen Grad überflüssig. Das Studium in England sollte eher den Horizont erweitern.
Daniel beobachtete den jungen Mann, der zu Hause anrief, um sich genauer zu informieren. Hatte Scott schon überlegt, was Sage zu seiner überstürzten Abreise sagen würde?
Bei dem Telefonat erfuhr Scott nicht allzu viele Einzelheiten. Die Haushälterin seines Vaters erwähnte nur, der Vorarbeiter liege nach einem Herzinfarkt im Krankenhaus und Scott müsse ihn vertreten. Auf diese Rolle war der junge Australier von Kindheit an vorbereitet worden, und er war auch gern bereit, der Nachfolger seines Vaters zu werden. Nachdem er versprochen hatte, den nächstmöglichen Flug zu buchen, legte er auf.
„Und Sage?“, fragte Daniel leise.
„Sage …“ Scott schien sie vorübergehend vergessen zu haben. Nun seufzte er unbehaglich. „Klar, ich muss zu ihr gehen und es ihr sagen. Sie wird es verstehen. Ich wünschte, ich könnte sie mitnehmen, aber …“
Dieses Mädchen im australischen Busch … Daniel fragte sich, ob die beiden jemals ernsthaft an die Zukunft gedacht hatten. Sage war viel zu empfindsam, zu schwach, um die Einsamkeit eines solchen Lebens zu ertragen. Wenn sie Scott heiratete und ihm nach Australien folgte, würde sie ihn ein Jahr später verlassen.
Und Scott? Glaubte Sage, er würde sich in England wohlfühlen, wo er doch wusste, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten musste? Das war ja auch sein eigener Wunsch. Man behauptete, Liebe mache blind. In Sages Fall, blind und selbstzerstörerisch … Scott liebte sie zweifellos, aber gewiss nicht mit derselben zielstrebigen Leidenschaft wie sie ihn.
Daniel hörte, wie der Freund in seinem MG davonbrauste. Scotts Vater war sehr großzügig, aber wahrscheinlich auch besitzergreifend – und sicher willensstark. Solche Väter hatten fest umrissene Vorstellungen von ihren künftigen Schwiegertöchtern, und Sage passte bestimmt nicht in dieses Bild.
Um Mitternacht war Scott noch immer nicht in seinem Zimmer. Daniel blickte beunruhigt von seinem Buch auf. Um acht war der Junge weggefahren. Vier Stunden müssten ihm eigentlich genügen, um Erklärungen abzugeben, sich zu verabschieden, eine baldige Rückkehr zu versprechen, zu geloben, er würde während der erzwungenen Trennung ständig an Sage denken und sich nach ihr sehnen.
Als Daniel um eins ins Bett gehen wollte, läutete das Telefon, und er meldete sich. Am anderen Ende der Leitung rief Sage hysterisch schluchzend seinen Namen. Es dauerte mehrere Minuten, bis er sie einigermaßen besänftigte und erfuhr, was geschehen war. Und dann hämmerte sein Herz dumpf und schmerzhaft gegen die Rippen. „In welchem Krankenhaus liegt er?“, fragte er brüsk und fügte hinzu, nachdem sie geantwortet hatte: „Bleib dort. Ich komme, so schnell ich kann.“
Während er in sein Auto stieg, betete er, es möge nicht so schlimm sein, wie es aussah. Sages Bericht zufolge war sie mit Scott durch die Gegend gefahren. Offenbar hatte Scott bei seiner heiklen Eröffnung mit ihr allein sein wollen. Es war zu einem erbitterten Streit gekommen. In ihrer Wut lenkte sie seine Aufmerksamkeit von der Straße ab, und er sah den Wagen nicht, der ihm entgegenraste. Den hatte ein Betrunkener gesteuert, der bei dem Zusammenstoß gestorben war.
Sage war nur leicht verletzt – ein paar kleine Kratzer –, aber vor Verzweiflung außer sich, wie Daniel nach seiner Ankunft in der Klinik feststellte. Und Scott lag im Koma. Das Krankenhauspersonal hatte sich bereits nach der Adresse seiner nächsten Verwandten erkundigt.
In einer knappen halben Stunde wurde alles geregelt. Daniel erklärte einer Krankenschwester, Scotts Vater lebe in Australien, gab ihr Mr McLarens Adresse und Telefonnummer. Beides hatte Scott glücklicherweise auf einen Notizblock gekritzelt, um
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