Schattenjahre (German Edition)
Enthüllungen ließ Sages Herz schneller schlagen, erinnerte sie an früheres Leid, an jenen Verrat. Es kam ihr so vor, als wäre sie um eine vertraute Straßenecke gebogen und müsste plötzlich entdecken, dass sich alles verändert und verzerrt hatte und völlig fremd geworden war …
„Sage? Oh, Gott sei Dank, du bist hier! Würdest du mir helfen? Gerade ist Ma nach Hause gekommen – in einem schrecklichen Zustand.“
Widerstrebend konzentrierte Sage ihre Aufmerksamkeit auf Camilla, die ins Zimmer gestürmt war, die Wangen hochrot, die Augen voller Tränen. Was sagte das Mädchen da? Irgendwas über Faye. Automatisch stand Sage auf.
„Sie ist schluchzend nach oben gelaufen. So hat sie noch nie geweint.“ Panische Angst schwang in Camillas Stimme mit. „Du musst was tun, Sage!“
Was tun … Was konnte sie tun? Mutter würde es wissen, wenn sie hier wäre. Aber sie ist nicht hier, dachte Sage dumpf. Besänftigend strich sie über Camillas wirre Locken und staunte, weil sie eine eigenartige Rührung empfand. Wie weich und kindlich sich dieses Haar anfühlte … Nostalgische Wehmut erfasste sie beim Gedanken an das Kind, das Daniel ihr hätte schenken können.
Jahrelang war sie überzeugt gewesen, sie eigne sich nicht zur Mutter und sei nicht dafür geschaffen, die grundlegende biologische Bestimmung einer Frau zu erfüllen. Und nun bedauerte sie, dass sie kein Kind von dem Mann hatte, der niemals ihr richtiger Liebhaber gewesen war. Lag das nur an irgendwelchen Hormonen – oder steckte mehr dahinter?
„Komm schon!“, drängte Camilla. „Bitte, beeil dich … Ich fürchte mich. So habe ich sie noch nie gesehen. Alles ist anders geworden …“ Wütend ballte sie die Hände, als könnte sie nicht akzeptieren, dass das Schicksal es gewagt hatte, auch nur einen einzigen Aspekt in ihrem Leben zu ändern. „Seit Grans Unfall bin ich ganz durcheinander.“
Obwohl sie allmählich zur Frau heranreift, ist sie immer noch ein verwöhntes Kind, das beschützt werden will, dachte Sage und folgte ihr aus der Bibliothek.
Faye in Tränen aufgelöst – Faye in einer emotionalen Verfassung, die Sage an ihren eigenen rebellischen Gefühlsüberschwang während der frühen Kämpfe gegen die Mutter erinnerte und die sie ihrer ruhigen, beherrschten Schwägerin niemals zugetraut hätte … Während sie die Treppe hinaufrannte, ging Camillas Angst auf sie über.
Die Tür zu Fayes Schlafzimmer war geschlossen. Sage klopfte an und flüsterte ihrer Nichte zu: „Geh doch nach unten und bitte Jenny, Tee zu machen.“
„Du meinst, es wäre besser, wenn ich für eine Weile verschwinde?“, erriet Camilla.
„Vielleicht. Wenn deine Mutter so aufgeregt ist, wie du sagtest …“
„Glaubst du, sie will mir verheimlichen, was mit ihr los ist?“
Sage nickte und wartete, bis das Mädchen gegangen war, ehe sie die Tür öffnete. Ihre Schwägerin saß auf dem Bett, das Gesicht in den Händen verborgen. Ein stummes Schluchzen erschütterte ihren ganzen Körper.
Instinktiv kniete Sage vor ihr nieder, legte ihr die Hände auf die Schultern und rüttelte sie sanft. „Faye, Liebes – was hast du denn? Stimmt irgendwas nicht?“
Faye hob den Kopf und starrte sie an, dann irrten die Augen so wild umher, dass Sage sekundenlang fürchtete, ihre Schwägerin hätte den Verstand verloren. Nach einer Weile wurde der verwirrte Blick etwas klarer. „Ob irgendwas nicht stimmt? Oh, es ist nicht so schlimm. Ich habe nur den Nachmittag damit verbracht, meine Mutter sterben zu sehen. Kein Grund zur Beunruhigung … Warum sollte ich traurig sein? Immerhin habe ich über zwanzig Jahre lang auf diesen Tag gewartet. Ich müsste lachen, dürfte nicht weinen. Sie ist tot, endlich bin ich frei. O Gott, Sage, ich weiß nicht, warum ich mich so benehme. Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Vielleicht bin ich ihr ähnlicher, als ich dachte, vielleicht werde ich auch verrückt …“
„Bitte, Faye, hör auf! Du hast einen Schock erlitten. Sicher hilft es dir, wenn du mir alles erzählst.“
Fayes Lippen verzerrten sich. „Wie oft ich das schon tun wollte … Der ganzen Welt wollte ich es erzählen, hinausschreien, was in mir vorgeht, den Leuten erklären, dass es nicht meine Schuld ist …“
Sie weinte wieder, ein trockenes Schluchzen rang sich aus ihrer Kehle, das in Sages eigener Brust schmerzte. „Schon gut, Liebes – jetzt ist es ja vorbei.“
Unwissentlich hatte sie die richtigen Worte gefunden. „Ja, es ist vorbei“, wiederholte Faye.
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