Schattenjahre (German Edition)
religiöse Berufung fühlte. Er fand, sein Glauben wäre nicht stark genug, und deshalb könnte er Gott nicht gerecht werden. Außerdem wollte er Kinder haben – für Cottingdean, für Edward. Er wusste, wie viel das seinem Vater bedeutete …“ Faye hielt inne, als sie sah, wie sich ihre Schwägerin an die Kehle griff. „O Sage, tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun. Natürlich hättest auch du heiraten und Kinder zur Welt bringen können. Eines Tages wird das sicher geschehen, aber …“
„Mein Vater hat sich nicht von mir Enkelkinder gewünscht, sondern von David.“ Abwehrend hob Sage die Hand, als Faye zu protestieren versuchte. „Wir wollen uns nichts vormachen. Du warst ehrlich zu mir – lass auch mich ehrlich zu dir sein. Mein Vater liebte mich nie – nicht so wie David, nicht einmal so wie dich. In meiner Kindheit kämpfte ich verzweifelt um seine Anerkennung – aber damit schürte ich nur seine Abneigung gegen mich. Ich begreife wirklich nicht, warum Mutter ein zweites Kind wollte.“
„Sie liebt dich.“
Sage lächelte wehmütig. „So?“
„O ja.“ Nachdenklich fügte Faye hinzu: „Ich habe mich oft gefragt, ob sie dich insgeheim nicht viel mehr liebt als David.“
Spöttisch verzog Sage die Lippen. „Das bildest du dir nur ein. Davids Tod brachte meinen Vater um. Beide Eltern liebten ihn mehr als mich. Warum auch nicht? Er war nun mal liebenswerter.“
„Manchmal kam er mir wie ein Heiliger vor. In seiner Haltung gegenüber anderen Menschen stand er so hoch über mir, dass ich fast verzweifelte.“
„Ich habe mich oft gewundert, warum du nie wieder geheiratet hast“, erklärte Sage leise. „Jetzt weiß ich es. Du bist eine so schöne Frau.“ Verlegen schüttelte Faye den Kopf, aber ihre Schwägerin ließ sich nicht beirren. „Doch, und ich bin nicht die Einzige, die so denkt. Mutters Arzt hat offensichtlich eine Schwäche für dich.“
„Alaric Ferguson?“ Falls Faye merkte, wie viel sie verriet, indem sie ihn beim Vornamen nannte, gab sie es nicht zu erkennen.
„Ein attraktiver Mann – und sehr sexy.“
„Also, was Sex betrifft …“
„Oh … Sei nicht böse.“
„Schon gut. Übrigens …“ Faye warf Sage einen kurzen Blick zu und fuhr dann hastig fort: „Ich weiß nicht, was du von mir denken wirst, wenn ich das erzähle … Aber heute, nach ihrem Tod, fühlte ich mich ganz anders, irgendwie geläutert. Ehe es zu Ende ging, war sie für einige Minuten bei klarem Verstand. Ich saß bei ihr und hielt ihre Hand. Nachdem sich ihr Zustand verschlechtert hatte, war sie ins Krankenhaus gebracht worden. Während der Nacht hatte sie einen Herzanfall erlitten, einen sehr schlimmen. Plötzlich öffnete sie die Augen, sah mich an und flüsterte meinen Namen – zum ersten Mal seit vielen Jahren. Ihr Blick war voller Reue und Trauer. Eine so tiefe Verzweiflung lag darin, und ich wusste, dass sie sich erinnerte – dass sie mich bat …“
„Dir zu verzeihen“, ergänzte Sage, als Fayes Stimme brach.
„Ja. Und da hatte ich das Gefühl, David säße neben mir und sagte, ich müsse mich entscheiden. Ich könne die stumme Bitte mit einem Lippenbekenntnis beantworten und versichern, ich würde ihr vergeben, aber in Wirklichkeit mein Herz vor ihr verschließen. Oder ich könne mein Herz öffnen, ihr die große Bürde der Schuld erleichtern und ihr helfen, in innerem Frieden zu sterben. Die Wahl liege ganz allein bei mir. Ich kann nicht beschreiben, wie mir zumute war. David war da, aber er übte keinen Druck auf mich aus, gab mir keine Anweisungen. Ich schaute Mutter an, und ich ahnte, dass sie meine Gedanken erriet. Der ganze Raum schien sich mit Licht zu füllen – und dieses Licht drang auch in mich ein. Ich kam mir beinahe schwerelos und euphorisch vor, so als würde eine gewaltige Last von meinen Schultern genommen. Sie sah mich an und wusste, dass ich ihr verzieh, obwohl ich es nicht aussprach. Wenig später starb sie.“
Tränen brannten in Sages Augen. Impulsiv breitete sie die Arme aus, und sie hielten einander fest, wiegten sich langsam hin und her, in wortlosem Einvernehmen.
„Und das war noch nicht alles“, wisperte Faye, nachdem sie sich losgelassen hatten, und wich Sages Blick aus. „Vielleicht wird es dich schockieren – mich schockiert es jedenfalls. Aber ich muss es dir erzählen, denn wenn es auch grässlich war – nie zuvor ist so etwas Wunderbares, Magisches mit mir geschehen. Nach Mutters Tod verließ ich das Krankenhaus und wanderte ziellos
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