Schattenjahre (German Edition)
Ich weiß nur, dass ich mich dazu verpflichtet fühlte. Damit bezahlte ich für alles Gute und Schöne in meinem Leben. Als ich David heiratete, lud ich sie nicht zum Hochzeitsfest ein. Ich wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Und nach seinem Tod …“ Sie erschauerte, und Sage umfasste teilnahmsvoll ihre Hand.
Nur zu gut verstand sie die tiefe Erschütterung ihrer armen Schwägerin. Wie hat sie es geschafft, ihre abscheuliche Kindheit und Jugend zu überleben? Wäre mir das auch gelungen? fragte sich Sage. Nein, unter solchen Umständen wohl kaum … Ihr empfindliches Nervensystem wäre einer so enormen Belastung nicht gewachsen gewesen. Sie fand keine Worte, um der Schwägerin mitzuteilen, was in ihr vorging. Heißes Mitleid trieb ihr Tränen in die Augen.
Nun wurde ihr klar, auf welcher Grundlage Faye und David ihre Ehe aufgebaut hatten. Und sie gewann noch eine andere Erkenntnis. „Meine Mutter wusste Bescheid?“
„Ja. Ich wohnte schon hier, als ich einen Brief mit der Nachricht erhielt, Mutter sei krank, sie habe einen Nervenzusammenbruch erlitten. Liz kam heim und traf mich in einem grauenvollen Zustand an. Da erzählte ich ihr alles. Sie war wunderbar, übte keinerlei Kritik.“
Sage hob die Brauen. „Warum sollte sie dich auch kritisieren?“
„Ganz einfach.“ Fayes Miene verdüsterte sich bei der Erinnerung an ihre Studienzeit.
„Manchmal überlege ich, ob es meine Schuld war, ob ich meinen Stiefvater unbewusst herausforderte …“
Sie verstummte, weil Sage energisch den Kopf schüttelte. „Wage bloß nicht, so was auszusprechen oder auch nur zu denken! Du warst sechs Jahre alt – ein kleines Kind! Mein Gott, wenn ich mir vorstelle, was du ertragen hast! Wie konnte deine Mutter – wie kann irgendeine Frau nur zulassen, dass so etwas mit ihrer Tochter geschieht …“ Sie unterbrach sich. „Verzeih, ich hätte das nicht sagen dürfen.“
„Ich bin froh, weil du kein Blatt vor den Mund nimmst. Gerade eben klang deine Stimme richtig mütterlich.“
Sage schloss die Augen. Niemals würde sie der Schwägerin anvertrauen, was sie vor ihrem geistigen Auge sah – ein Kind mit Daniels Zügen, nur weicher und zarter. Sein Kind, ihr Kind. Der Gedanke, dieses Kind könnte jemals so leiden wie Faye, weckte den Wunsch, seinen Peiniger zu martern, bis er vor Schmerzen schrie, um Gnade winselte, um den Tod bettelte … Die Intensität ihrer eigenen Gefühle erschreckte sie. Nie hatte sie sich als mütterliche Frau betrachtet, die ihr Kind mit Zähnen und Klauen verteidigen würde. Aber nicht zum ersten Mal gaukelte ihr die Fantasie ein kleines Geschöpf vor, das ihr die Natur nie gegeben hatte.
Eine innere Stimme flüsterte, es sei noch nicht zu spät, Daniel habe ein starkes sexuelles Interesse an ihr, selbst wenn es eher von Zorn angestachelt wurde als von zärtlicher Liebe. Sie konnte ein Kind von ihm bekommen, ihm dieses kostbarste aller Geschenke entlocken, es irgendwie erschleichen.
Gerade sie – stets bestrebt, ehrlich zu sich selbst und anderen zu sein – wollte ein so tückisches Manöver inszenieren? Nein, das durfte sie nicht tun. Es wäre unfair dem Kind gegenüber, das eines Tages fragen würde, wer sein Vater sei, und sie dann womöglich mit Daniels Augen ansah, mit Daniels Abneigung und Ekel.
Ein Frösteln durchrann ihren Körper, und Faye neigte sich besorgt zu ihr. „Entschuldige – ich wollte dich nicht erschrecken …“
„Nein, nein, das ist es nicht. Ich wünschte nur, ich hätte es früher gewusst und …“
„Das wäre sinnlos gewesen. Es half mir nicht, anderen Leuten davon zu erzählen. Das merkte ich, als ich mich David anvertraute. Sicher, zunächst war es eine gewisse Erleichterung. Aber der Kummer ließ sich nicht verscheuchen. Ich liebte David, ihm verdanke ich die glücklichsten Jahre meines Lebens und Camilla, aber in sexueller Hinsicht …“ Faye senkte den Kopf, und Sages Herz krampfte sich zusammen. Wie konnte ein Mann einem kleinen Mädchen so etwas antun, alle weiblichen Gefühle zerstören, die mit wachsender Reife entstehen würden? Würde das an Faye verübte Verbrechen ihre Sexualität für immer überschatten?
„David liebte dich, und Sex war ihm nicht wichtig. Ich dachte oft, er hätte ein Priester werden müssen …“
„Ja, ich glaube, das dachte er auch. Er mochte junge Menschen, und es bereitete ihm Freude, ihnen etwas beizubringen, sie zu beraten. Aber er war zu ehrlich, um sein Leben der Kirche zu weihen, wenn er keinerlei
Weitere Kostenlose Bücher