Schattenjahre (German Edition)
Schuppen, der beinahe eingestürzt wäre. Sages Mutter hatte ihn renovieren lassen. Nun wurde er als Treffpunkt, für Flohmärkte und Tanzveranstaltungen benutzt. Die Galerie des Originalgebäudes war erhalten geblieben. Dort pflegte man die Tanzkapelle zu postieren. An diesem Abend blieb sie leer.
Sage blickte sich in dem vertrauten Raum mit der alten Balkendecke um. Wenn ihn ein Fremder betrat, würde er niemals erraten, dass hinter dem traditionellen, mit Lehm beworfenen Flechtwerk der einen Wand eine moderne Küche lag oder dass man ein Drittel des Bodens bühnenförmig anheben konnte, wenn die dörfliche Theatertruppe auftrat. Liz Danvers hatte an alles gedacht. Die Stühle in den wohlgeordneten Sitzreihen waren Spezialanfertigungen, bequem und praktisch.
„Da kommen die ersten Leute“, bemerkte Anne Henderson. „Die Frau des Vikars rief mich an und sagte, ihr Mann würde sich ein bisschen verspäten. Er gehört dem Komitee an. Liz hatte gehofft, der ortsansässige Parlamentsabgeordnete würde erscheinen. Aber bis jetzt haben wir nichts von ihm gehört.“
Die übrigen Komiteemitglieder waren ein Anwalt und ein praktischer Arzt, beide wortgewandt und grimmig entschlossen, den Straßenbau zu verhindern. Die müssen meine Unzulänglichkeitenwettmachen, überlegte Sage, als sie ihr vorgestellt wurden. Sie konnte nur hoffen, eine Art Galionsfigur darzustellen und den Standpunkt ihrer Mutter zu vertreten. Wertvolle Argumente hatte sie nicht beizutragen. Ihre Rolle bestand darin, die Existenz der Kampftruppe zu demonstrieren, ohne selbst am Kampf teilzunehmen.
Der Saal begann sich zu füllen, den Mienen der Leute merkte man an, wie ernst sie die Bedrohung ihres ländlichen Friedens nahmen. Bei der Sitzung würden heftige Gefühle zum Ausdruck kommen. Aber wann hatten Gefühle jemals genügt, um die Logik zu besiegen? Daran lag es wohl, dass Sage aus vielen Kämpfen als Verliererin hervorgegangen war.
Die Aktivitäten bei der Tür nahmen zu, und Anne Henderson entschuldigte sich. „Das muss die Opposition sein. Ich werde mal hingehen und mich vorstellen.“
Sage beobachtete, wie ein Mädchen eintrat, begleitet von einem Mann, eine schlanke, elegante Brünette von Anfang zwanzig, in jenem Stil gekleidet, den Modezeitschriften als Arbeitsgarderobe für die moderne Frau propagierten. Vorausgesetzt, sie konnte sich schlichte, teure Designersachen leisten.
Aber diese junge Frau kam Sage trotz der geschäftsmäßigen Kleidung nicht wie ein Karrieretyp vor, sondern wie ein sinnliches, fast raubtierhaftes Geschöpf, das sich eher für einen Mann als für die Versammlung angezogen hatte. Die schlichte Seidenbluse war scheinbar unabsichtlich so weit aufgeknöpft, dass sie die provozierende Vertiefung zwischen den Brüsten entblößte. Der kurze, gerade geschnittene Flanellrock betonte wohlgeformte Beine. Auch die elegante, einfache Frisur und das dezente Make-up wirkten erotisch.
Eine Frau bemerkte solche Dinge sofort. Männer waren da anders, und Sage fragte sich amüsiert, was an dem ziemlich unscheinbaren, mit Jeans und Windjacke bekleideten Mann dran sein mochte, das die Bemühungen seiner Begleiterin rechtfertigte.
Sie stand auf, schüttelte beiden die Hand und stellte sich vor. Prüfend wurde sie von der jüngeren Frau gemustert und verbarg ihre Belustigung. Von mir hat sie nichts zu befürchten, dachte sie. Ihre Beute interessiert mich absolut nicht.
Der Mann vom Ministerium wollte sich neben sie setzen, aber Anne Henderson bat ihn, diesen Platz dem Aufsichtsratsvorsitzenden von der Straßenbaufirma zu überlassen.
„Ach ja“, flötete das Mädchen, „der wird sich um ein paar Minuten verspäten. Er schlug vor, wir sollten ohne ihn anfangen. Er besucht vorher eine Versammlung, um die Fragen einiger Leute nach den Vorteilen der neuen Straße zu beantworten.“
„Ist das nicht ein bisschen verfrüht?“, wandte Sage in kühlem Ton ein und erwiderte Helen Ordmans abweisenden Blick. „Sie rechnen damit, dass die Straße gebaut wird, und das steht noch keineswegs fest.“
Stephen Simmonds runzelte unbehaglich die Stirn, und Sage genoss die Genugtuung, unschmeichelhafte Röte in die gepuderten Wangen der Brünetten steigen zu sehen. Offenbar gehörte Helen Ordman zu den Frauen, die ihre äußere Erscheinung einsetzten, um ihre von der Natur weniger begünstigten Geschlechtsgenossinnen zu verunsichern und die Männer in hilflose Kapitulation zu treiben.
„Nun, wir sind hergekommen, um über das Projekt zu
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