Schattenjahre (German Edition)
diskutieren“, mischte sich Stephen Simmonds hastig ein. „Natürlich verstehen wir die Bedenken der Einheimischen, und es ist unsere Aufgabe, ihnen zu versichern, dass man ihre Situation berücksichtigen und dass der Straßenbau ihr tägliches Leben so wenig wie möglich stören wird.“
„Und wenn die Straße fertig ist?“, fragte Sage trocken. „Oder betrachten Sie eine sechsspurige Straße, die das Dorf praktisch in die Hälfte schneiden wird, nicht als Störung? Vielleicht wollen Sie uns eine hübsche Brücke oder eine Unterführung spendieren, damit die eine Hälfte mit der anderen in Kontakt bleiben kann, ohne dass die Dorfbewohner erst nach London und wieder zurückfahren müssen …“
„Wir sollten anfangen“, wisperte Anne Henderson an Sages Seite. „Die Leute werden unruhig.“
Sage eröffnete die Sitzung, stellte die Gäste vor und erteilte dann Anne Henderson das Wort, die mit dem Ziel der Bürgerinitiative wesentlich vertrauter war. Aber nach den wenigen Worten, die sie mit Stephen Simmonds und Helen Ordman gewechselt hatte, wusste auch Sage, was zu erwarten war.
Auf Anne Hendersons einleitende Ansprache folgte eine Erklärung Stephen Simmonds, der die Befürchtungen der Leute zu zerstreuen suchte und die neue Straße als vernünftige, unabdingbareVoraussetzung für die weitere Existenz des Landes hinstellte.
Anne konterte mit eher emotionalen als logischen und analytischen Argumenten, und die Reaktion des Publikums bewies, dass es auf ihrer Seite stand. Danach wurden Fragen gestellt. Zynisch registrierte Sage, wie gut das Drama inszeniert war. Helen Ordman beantwortete alle Fragen der Männer, versprühte ihren ganzen Charme und wich stichhaltigen Gegenargumenten mit einem zauberhaften Lächeln geschickt aus.
Dies ist das erste von mehreren Scharmützeln, die vor der eigentlichen Schlacht stattfinden werden, dachte Sage. Den schriftlichen Unterlagen ihrer Mutter hatte sie entnommen, wie wichtig die Unterstützung eines einflussreichen Politikers wäre. War Liz deshalb in London gewesen? Vor einigen Jahren war ihr vorgeschlagen worden, für das Parlament zu kandidieren, doch das hatte sie abgelehnt, mit der Begründung, für eine politische Karriere fehle ihr die Zeit. Trotzdem besaß sie gute Kontakte zu Regierungskreisen.
Sie schaute zur Tür, als ein dunkelhaariger großer Mann eintrat. Im Gegensatz zu dem Beamten aus dem Ministerium trug er einen korrekten Anzug, aber wie seine kraftvolle Ausstrahlung verriet, war er an körperliche Aktivitäten gewöhnt, nicht an eine Schreibtischtätigkeit.
Das weibliche Interesse, das ihn empfing, war fast greifbar. Nun wusste Sage, warum sich Helen Ordman so viel Mühe mit ihrer äußeren Erscheinung gegeben hatte – für diesen Mann, der jetzt den Kopf hob und nicht sie anschaute, sondern Sage. Er erkannte sie sofort.
Daniel Cavanagh. Der Saal schien sich blitzschnell um sie zu drehen, und sie hielt sich mit zitternden Fingern an der Tischkante fest. Daniel Cavanagh … Wie lange hatte sie sich verboten, an ihn zu denken, sich an seine Existenz zu erinnern?
Gedanken, die sie jahrelang verdrängt hatte, zusammen mit ihren schmerzlichen Schuldgefühlen …
Er hatte sie nur kurz angeschaut, ohne zu zeigen, dass sie sich nicht zum ersten Mal begegneten. Sie hörte, wie Anne ihn vorstellte. Das leise Gespräch, das er dann mit Helen Ordman führte, verstand Sage nicht, nahm aber die sinnliche Herausforderung wahr, die in der Frauenstimme mitschwang. Zu ihrer Verwirrung verspürte sie heftige, völlig überflüssige, unerwünschte und lächerliche Eifersucht.
Warum beneidete sie eine andere Frau um einen Mann, den sie selbst nie gewollt, nicht einmal gemocht und skrupellos benutzt hatte, in Zorn, Bitterkeit und Selbstsucht? Und seine gnadenlose Gegenwehr hatte bewirkt, dass sie jenen Lebensabschnitt am liebsten vergessen würde.
So viele Fehler in ihrer Vergangenheit … Aber Daniel Cavanagh war mehr gewesen als nur ein Fehler – ein beinahe verhängnisvoller Irrtum, der ihre Unfähigkeit gezeigt hatte, ihre eigene Person einzuschätzen, ein Wendepunkt ihres Lebens.
Er nahm neben ihr Platz, lässig und unbefangen, ein Mann, der mit sich selbst und seinen Leistungen vollauf zufrieden war. Ohne den mildernden Einfluss der Jugend traten die Kanten seines Gesichts stärker hervor. Er war siebenunddreißig, drei Jahre älter als Sage.
Höflicher Applaus unterbrach ihre Gedanken. Sie beobachtete, wie er aufstand. Fast ärgerlich bemerkte sie, dass
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