Schattenjahre (German Edition)
er einen maßgeschneiderten Anzug trug, der die breiten Schultern und die etwa einsfünfundachtzig große Figur gut zur Geltung brachte. Krampfhaft versuchte sie sich auf seine Worte zu konzentrieren, hörte aber nur den Klang seiner Stimme, der Echos aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort weckte. Auch damals hatte er so präzise und kontrolliert gesprochen, um ihren Stolz zu vernichten, ihre Seele auseinanderzureißen und ihr dann die Einzelteile mit kühler, demütigender Höflichkeit zu überreichen.
„Du tust mir leid“, hatte er gesagt und es ernst gemeint. In viel größerem Ausmaß als Scott war er verantwortlich für die Verwandlung des hitzköpfigen, eigensinnigen, egoistischen Mädchens in eine vorsichtige, zurückhaltende Frau, die nur noch sich selbst vertraute.
Vielleicht sollte sie ihm dankbar sein. Auch das hatte er betont, ihr mit messerscharfen Worten ins Gesicht geschleudert. „Ich finde, du müsstest mir dankbar sein …“
In all den Jahren hatte sie sich nicht gestattet, an jene Zeit zu denken, und eine einschneidende Trennlinie zwischen ihrem früheren und dem neuen Leben gezogen. Könnte sie doch aus dem Saal fliehen … Doch das war unmöglich. Die Leute bestürmten Daniel Cavanagh mit Fragen. Was immer er gesagt haben mochte, es erregte die Gemüter. Sie hätte zuhören, die Vergangenheit vergessen müssen. Schließlich saß sie hier, um der Debatte zu folgen.
Später schloss sie die Sitzung, ohne zu wissen, was besprochen worden war. Anne erklärte,der Vikar habe die Komiteemitglieder zum Tee in sein Haus eingeladen. „Leider kann ich nicht mitkommen“, erwiderte Sage, die immer noch nach Fassung rang.
„Natürlich, das verstehe ich – Sie wollen nach Hause. Haben Sie etwas Neues aus der Klinik gehört?“
Sage schüttelte den Kopf, der grässlich zu schmerzen begann. Einer der gefürchteten Migräneanfälle drohte, obwohl sie glaubte, sie hätte sie längst unter Kontrolle gebracht. Sie wollte sich nur noch irgendwo verkriechen, in dunkler Sicherheit, wo sie nicht denken und niemandem etwas vormachen musste, wo kein großer, dunkelhaariger Mann neben ihr stand, der böse Erinnerungen wachrief.
Sie verließ den Saal als Erste, mit schnellen Schritten und zitternden Beinen. Tief atmete sie die kühle, frische Luft ein. Ihr Porsche parkte nur wenige Meter entfernt. Sie zweifelte an ihrer Fahrtüchtigkeit, denn ihr Magen krampfte sich zusammen, und in ihrem Kopf dröhnte es. Manchmal hatte sie bei solchen Migräneanfällen die Besinnung verloren. Es wäre vernünftiger gewesen, Charles anzurufen und ihn zu bitten, er möge sie abholen. Aber dann hätten sie hier warten und womöglich Daniel gegenübertreten müssen.
Nun hörte sie bereits seine Stimme hinter sich, auch die sanftere, fast zärtliche seiner Begleiterin. Besaß Helen Ordman keinen Stolz? Wusste sie nicht, wie aufdringlich sie sich benahm, oder war es ihr egal? Daniel war keine leichte Beute. Er wusste alles über die weibliche Psyche.
„Sage … Wie ich soeben erfahren habe, kannst du die Einladung des Vikars auch nicht annehmen.“ Er stand neben ihr. Um die Gebote der Höflichkeit zu befolgen, hätte sie sich zu ihm wenden müssen. Aber sie konnte nicht einmal den Kopf bewegen oder den Mund öffnen, um zu antworten.
„Daniel, musst du schon gehen? Wir hätten noch so viel zu besprechen …“
Glücklicherweise gibt es Raubtierfrauen, dachte Sage erleichtert, als Helen Ordman besitzergreifend seinen Arm umfasste.
„Ja, leider muss ich mich verabschieden. Morgen habe ich eine Aufsichtsratssitzung, und vorher wartet ein riesiger Papierstapel auf mich … Sage, ich vermute, dieses scharlachrote Monstrum gehört dir. Du bist schon immer gern aufgefallen, in allen Belangen.“
Er ließ sie stehen, so wie er sie angetroffen hatte – sprach- und reglos. Sie starrte ihm nach und ärgerte sich über die Tränen, die ihren Blick verschleierten. Dann wartete sie, bis Daniel Cavanagh in seinem Oldtimer davongefahren war, in einem stahlgrauen Aston Martin, der viel mehr gekostet haben musste als ihr Porsche. Erst danach entfernte sie sich von ihrem Wagen und schlug die Richtung von Haus Cottingdean ein, das nur zwei Meilen vom Dorf entfernt lag. Ein angenehmer Spaziergang an diesem warmen Frühlingsabend … Als Teenager, vor der Fahrprüfung, hatte sie diese Strecke oft zu Fuß zurückgelegt, aber damals keine Schuhe mit zehn Zentimeter hohen Absätzen getragen und nicht an Kopfschmerzen gelitten.
Was geschah
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