Schattenjahre (German Edition)
angebetet, mit einer Intensität geliebt, die Sage zu besitzergreifend gefunden hätte. Eine solche Liebe war eine Belastung. In ihrem Freiheitsdrang hätte sie dagegen gekämpft. Wäre sie an der Stelle ihrer Mutter gewesen, sie hätte den Vater wahrscheinlich verlassen. Aber sie war anders als die moralisch perfekte Mutter, die ihre eigenen Bedürfnisse niemals über die eines so abhängigen, hilflosen Menschen wie ihres Ehemanns gestellt hätte.
Sage runzelte die Stirn, als ihr bewusst wurde, dass sie die Ehe ihrer Eltern zum ersten Mal einer genaueren Betrachtung unterzog, eine Beziehung, die ihr jahrelang ideal erschienen war. Stets hatte sie die Mutter um deren Rolle des Angelpunkts im Leben des Vaters beneidet. Und nun erkannte sie, wie unglücklich sie in einer solchen Ehe gewesen wäre – eine Gefangene.
So hatte Liz es offensichtlich nicht empfunden. Sage zuckte die Achseln. Sie war eben ganz anders als die Mutter. Nichts verband sie miteinander, außer der zufälligen Blutsverwandtschaft, die keiner von beiden gefiel, wenn Liz die Antipathie auch besser verbarg, als es die Tochter vermochte.
Trotz allem, was geschehen war, trotz der hasserfüllten Bitterkeit fühlte sich Sage zwanghaft zu dem Mädchen hingezogen, das sie bei ihrer Lektüre der Tagebücher kennenlernte. Und deshalb blätterte sie nun um zwei Uhr morgens in den eng beschriebenen Seiten und verdrängte die Erinnerungen, die sie um den Schlaf gebracht hatten – die unerwünschten Erinnerungen an Daniel Cavanagh.
Daniel … Sekundenlang schloss sie die Augen und wehrte sich gegen den unheimlichen Eindruck, der Mann hätte es irgendwie geschafft, in dieses Zimmer zu treten. Was war er schon? Nur ein Mann, mehr nicht. Ein Mann wie so viele andere. Sie schlug das Buch an der Stelle auf, wo sie zu lesen aufgehört hatte, verbannte energisch alle Gedanken an Daniel Cavanagh und die Vergangenheit, konzentrierte sich auf den Lebensbericht ihrer Mutter.
Eine Woche verstrich, dann noch eine, und Kit meldete sich nicht mehr. Jeden Tag wartete Lizzie hoffnungsvoll auf einen Brief. Eines Morgens erwachte sie, und die Welt schien sichschwindelerregend um sie zu drehen. Von heftiger Übelkeit erfasst, rannte sie ins Bad und übergab sich. Dass ihr die Ursache des Erbrechens nicht sofort bewusst wurde, lag an der Prüderie, die das Leben ihrer Großtante beherrschte.
Lizzie fühlte sich nicht zum ersten Mal so elend. Beim Antritt ihrer Stellung im Krankenhaus hatte ihr Magen oft gegen das unappetitliche Essen revoltiert. Wenn sie während ihrer sehnsüchtigen Tagträume von Kit gelegentlich an das regelmäßige morgendliche Erbrechen dachte, vermutete sie einfach, die Übelkeit jener früheren Zeiten wäre zurückgekehrt.
Doch dann bemerkte ein anderes Mädchen, wie sie zur Toilette lief, und klärte sie unwissentlich auf, in der Annahme, Lizzie wüsste schon Bescheid.
Ein Baby … Nicht nur ein Baby, sondern Kits Baby. Dem anfänglichen Entsetzen angesichts der Tatsache, dass sie nun zur verwerflichen Schar jener Frauen zählte, die laut ihrer Tante „in Schwierigkeiten geraten“ und zu Außenseiterinnen der Gesellschaft geworden waren, folgte heiße Freude. Sie erwartete ein Kind von Kit.
Allein im Schlafsaal, sank sie zitternd auf ihr Bett und legte schützend die Hände über ihren Bauch. Ihr war schwindlig, aber nicht vor Übelkeit, sondern vor Glück. Kits Kind … Könnte sie die wunderbare Neuigkeit doch mit ihm teilen, das überwältigende Entzücken über das winzige Leben, das sie gemeinsam gezeugt hatten! Wie sehr sie sich nach ihm sehnte …
Sie starrte ins Leere, verloren in einem schönen Tagtraum, wo Kit plötzlich auftauchte, sie in die Arme riss und erklärte, sie müsse ihn sofort heiraten, er liebe sie über alles. In seinem funkelnden, kleinen grünen Auto würde er mit ihr davonfahren, um sie in aller Heimlichkeit vor den Traualtar zu führen. Danach würde sie in einem von Rosen umrankten Häuschen leben, vor der Welt verborgen, aber in der Nähe seiner Kaserne, damit sie sich in jeder freien Minute sehen konnten. Dort würde sie auf die Geburt des Kindes warten – eines Sohnes, das wusste sie. Und sie würden überglücklich sein …
Eine ihrer älteren, erfahreneren Kolleginnen holte sie auf den Boden der brutalen Wirklichkeit zurück. Die anderen hatten Donna zu ihrer Sprecherin ernannt, denn Lizzies Verhalten bestürzte sie. Wäre eine von ihnen in diesem Zustand gewesen, hätte sie nicht herumgesessen und auf den
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