Schattenjahre (German Edition)
sollte er nicht auch noch Kits Kind bekommen? In seiner Obhut, geborgen in seiner Liebe würde dieses Kind heranwachsen und viel mehr erhalten, als der leibliche Vater ihm jemals hätte geben können.
Und nicht zuletzt würde er Lizzie für sich gewinnen, die sanftmütige, schöne Lizzie, die durch das Grau seiner Tage schritt wie ein schimmernder, Leben spendender Regenbogen. Aber würde sie ihn heiraten wollen? Sie war jung, hübsch und begehrenswert. Wenn sie ihn heiratete und später verließ … Hatte er das Recht, sie an sich zu binden? Warum bot er ihr nicht einfach nur ein neues Zuhause an, einen sicheren Hafen? Nur, weil er wusste, dass die Leute tratschen würden, vor allem, sobald sie die Schwangerschaft bemerkten? Oder weil er schon seit langer Zeit den heimlichen Wunsch hegte, sein armseliges Leben mit diesem Mädchen zu verbringen?
Schlaflos warf sich Lizzie im Bett umher. Je näher der Morgen rückte, desto größer wurde ihre Angst.
Die Oberschwester hatte keinen Zweifel daran gelassen, wie Tante Vi die Neuigkeit aufnehmen würde. Kalte Furcht vor der Zukunft brach sich allmählich Bahn durch die Trauer um Kit, der – das erkannte sie jetzt – niemals wirklich zu ihr gehört hatte.
Ihr Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen, und sie fühlte sich so einsam – noch einsamer als während der ersten Tage im Haus ihrer Tante.
Zum ersten Mal wünschte sie, kein Baby zu erwarten, doch diesen Gedanken verdrängte sie sofort und schämte sich ihrer Schwäche. Wie konnte sie Kits Kind das Leben missgönnen? Schützend legte sie die Hände auf ihren Bauch und bat den wachsenden Fötus um Verzeihung. Natürlich wollte sie das Baby gebären, natürlich liebte sie es, natürlich würden sich alle Qualen lohnen, die sie noch erdulden musste.
Und dann erinnerte sie sich an die Schicksale der wenigen Frauen in ihrem Bekanntenkreis, die uneheliche Kinder zur Welt gebracht hatten. Die Dorfbewohnerinnen mieden diese armen ledigen Mütter wie die Pest, die Männer verspotteten sie, die Kinder wurden von den anderen verachtet. Tränen brannten in Lizzies Augen. Eines dieser Mädchen, etwa so alt wie sie selbst, hatte sogar Selbstmord begangen, um dem bösartigen Klatsch zu entrinnen.
Sie erschauerte voller Angst vor dem Leben, das ihr und dem Baby bevorstand. O Kit, wie konntest du mich verlassen, fragte sie in Gedanken. Ich brauche dich so sehr … Aber sie war allein, und Kit war ohnehin nie für sie bestimmt, sondern mit einer anderen verlobt gewesen. Er hatte sie hintergangen – und sie hatte ihm geglaubt. Seine heiße Liebe – für Lizzie ein so kostbares Geschenk – war niemals über körperliche Begierde hinausgegangen. Bedrückt erinnerte sie sich, dass sie sich ihm nur aus Liebe hingegeben und keinerlei sexuelle Gefühle empfunden hatte.
Edward wartete bis zum Schichtwechsel am Morgen. Zu diesem Zeitpunkt entstand immer eine gewisse Unruhe in der Abteilung.
Er bat einen Patienten, ihn in den kleinen Seitentrakt zu bringen, wo Lizzie lag. Als sie die Räder des Rollstuhls knarren hörte und ihm entgegensah, wurde sie rot vor Verlegenheit. Sofort merkte er, wie sie vor ihm zurückschreckte. Mitleid und Zorn erfüllten ihn. Sie war bereits gezeichnet vom Stigma der Verworfenheit, das sie seinem Vetter verdankte, hatte die frische Aura der Unschuld verloren, und man merkte ihr bereits die Bürde des Kindes an, das ihr Körper barg.
Sie wandte den Kopf ab. Der andere Patient entfernte sich, ließ die beiden allein in dem winzigen Raum, nachdem Edward ihn gebeten hatte, in zehn Minuten wiederzukommen.
Tränen verdunkelten Lizzies Blick, und sie konnte ihren Besucher nicht anschauen. Die anderen hatten es nicht geschafft, Schamgefühle in ihr zu wecken. Das gelang nur Edwards ruhigem, sanftem Gesicht.
Er beobachtete, wie ihre Schultern bebten, und neuer Zorn stieg in ihm auf. Allein dafür hätte er Kit umbringen können.
„Lizzie, nicht …“ Behutsam legte er eine Hand auf ihren Arm. „Es war Kit, nicht wahr? Sie erwarten ein Kind von meinem Vetter. Und es ist meine Schuld, dass Sie sich jetzt in dieser Situation befinden. Meine Ungeschicklichkeit gestern …“
„Stimmt es, dass er mit einer anderen verlobt war?“
Edward hielt den Atem an. Damit hätte er rechnen müssen. Lizzie, dieses arme Mädchen, hatte Kit geliebt. Natürlich – sie war nicht der Frauentyp, der sich einem Mann ohne Liebe hingab. Sekundenlang fühlte er sich versucht, die Wahrheit zu sagen, doch er brachte es nicht
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