Schattenjahre (German Edition)
wie eine schwarze bittere Welle. Alles hätte er hingegeben, was er besaß – und dazu gehörte jetzt auch Cottingdean –, wäre er jetzt imstande gewesen aufzustehen, das Mädchen ins Haus zu tragen, wie ein Mann zu handeln, nicht wie ein verrottender Fleischklumpen. So, wie die Dinge lagen, konnte er nur beten, Lizzie möge sich irgendwie in Sicherheit bringen oder von jemandem geholt werden.
Wütend über seine Unfähigkeit, ihr zu helfen, sagte er tonlos. „Offenbar ist Ihnen übel, und ich hätte nicht zulassen dürfen … Wir sollten ins Haus zurück …“
Später erkannte Lizzie, dass sie die Worte irgendwie gehört haben musste. Denn sie stand auf, ergriff die Lehne des Rollstuhls, lockerte die Handbremse und schob ihn in die Richtung der Klinik, ohne zu wissen, was sie tat. Sie nahm überhaupt nichts wahr außer dem wilden Schmerz in ihrem Innern.
Kit – tot … Kit war ihr genommen worden. Aber noch viel schlimmer erschien ihr die Neuigkeit, die Edward nur nebenbei erwähnt hatte. Er würde der Verlobten seines Vetters schreiben, hatte er erklärt. So krampfhaft sie auch versuchte, diesen Worten zu entrinnen – sie konnten keine Ausgeburt ihrer angstvollen Fantasie sein.
Wie sie das Krankenhaus erreicht hatten, wusste sie nicht. Edward rief einer Schwester zu: „Könnten Sie Lizzie helfen? Es geht ihr nicht gut!“
Sie wollte widersprechen, aber ringsum schwankte alles, färbte sich rot, dann schwarz und sog sie in einen grausigen, von Qualen erfüllten Abgrund hinab.
Den ganzen Nachmittag sorgte sich Edward und fragte alle, die in seine Nähe kamen, nach Lizzies Befinden. Schließlich verlor das Personal die Geduld, und die Stationsschwester eilte zu ihm, mit grimmiger Miene. „Aber, aber, Major Danvers! Sie dürfen sich nicht so aufregen. Miss Bailey fehlt nichts, was sie sich nicht selbst zuzuschreiben hätte. Und Sie trifft gewiss keine Schuld, Sir … Also wirklich, diese Mädchen … Man sollte meinen, sie wären zu vernünftig, um sich in solche Schwierigkeiten zu bringen.“ Natürlich hatte man Miss Bailey entlassen, sobald der Arzt sie untersucht hatte. Am nächsten Morgen sollte sie zu ihrer Tante geschickt werden. Die würde sich keineswegs freuen, nach allem, was die Oberschwester von ihr erzählte. Ein tiefer Seufzer hob den üppigen Busen der Stationsschwester unter der gestärkten Schürze. Sie war vierundfünfzig und unverheiratet. Diese albernen Mädchen mit ihren Liebschaften ärgerten sie. Normalerweise sah sie jeder an, ob sie in Schwierigkeiten geraten würde. Aber Lizzie Bailey hätte sie das niemals zugetraut. Wie man sich täuschen konnte …
Sie kräuselte die Lippen, und Edward ahnte unbehaglich, dass ihm etwas verschwiegen wurde. „So, Major Danvers, bald wird’s Zeit für Ihre Medizin …“ Freundlich lächelte sie. Was konnte es diesem Patienten schon ausmachen, was mit dem albernen Mädchen los war? Solche Dinge spielten keine Rolle mehr in seinem Leben.
Während der Nacht wuchs seine Unruhe. Aber wen immer er auch fragte, niemand wollte ihm verraten, was mit seiner Freundin geschehen war.
Lizzie, aus dem Wohnheim verbannt, lag in einem Krankenhausbett, von einer missbilligenden Schwester beaufsichtigt. Man hatte ihr mitgeteilt, bei der ärztlichen Untersuchung sei ihre Schwangerschaft festgestellt worden und man würde sie nach Hause schicken. Zunächst, in ihrer Verzweiflung über Kits Tod und seine Verlobung mit einer anderen – mochte er sie selbst auch noch so sehr geliebt haben – war es ihr unmöglich gewesen, an ihre Zukunft zu denken.
Aber jetzt, wo sie hilflos und verängstigt dalag, kam ihr die Realität ihrer Situation allmählich zu Bewusstsein. Sie würde das Kind eines toten Vaters zur Welt bringen, mit dem sie nicht verheiratet war. Nur ganz kurz spielte sie mit dem Gedanken, einfach zu behaupten, Kit habe sie zum Altar geführt. Das wäre unehrlich gewesen, und sie konnte sich nicht dazu durchringen. Also musste sie Tante Vi gegenübertreten – vorausgesetzt, die würde sie ins Haus lassen, sobald sie die Wahrheit kannte.
Zitternd zog sie sich die Decke bis ans Kinn. Ihr graute vor dem nächsten Morgen. Lautlos begann sie zu weinen.
Auch Edward fand keinen Schlaf. Bei einem nächtlichen Rundgang beobachtete eine Schwester, die erst seit Kurzem in der Klinik arbeitete, wie er sich herumwälzte. Sie holte den Arzt.
„Stimmt was nicht, alter Junge?“, fragte der Doktor. Er war längst pensionsreif, erschöpft und abgemagert unter der
Weitere Kostenlose Bücher