Schattenjahre (German Edition)
mochte, sie würde sich nie von ihrem Kind trennen.
Edward sah, wie Tränen ihren Blick verschleierten, und ihr Gesicht erschien ihm bleicher denn je. Wenn er ihr doch helfen könnte …
Plötzlich erkannte er, dass da irgendetwas nicht stimmte. Er beobachtete die Tränen, die langsam über Lizzies Wangen rannen, und wandte sich sofort ab, denn er wollte nicht in ihre Intimsphäre eindringen.
Als er sich in seinem Rollstuhl ungeschickt zur Seite drehte, knisterte das Kuvert in seiner Tasche, und er tastete danach. Den Kopf von Lizzie abgewandt, riss er es auf und gab ihr Zeit, ihre Fassung wiederzuerlangen, was immer sie auch darum gebracht hatte. Über ihr Privatleben wusste er nichts. Danach hatte er nie gefragt, aus Angst, ihre Freundlichkeit über Gebühr zu beanspruchen. Nein, er würde sie nicht mit seiner Einsamkeit belasten, mit seinem tief verwurzelten Bedürfnis, eine Bindung zu ihr einzugehen, die nie entstehen konnte.
Sie war nicht wie die anderen Schwestern, behandelte ihn nicht mit kränkendem Mitleid, mit jener typisch weiblichen Verachtung seiner Unvollkommenheit. Lizzie war sanft und rücksichtsvoll, und trotz allem besaß er immer noch seinen Stolz, seine Selbstachtung.
Ungeduldig zog er den Brief aus dem Umschlag und begann ihn zu überfliegen. Abrupt hielt er inne, als ihm der Inhalt des Schreibens bewusst wurde, und las es noch einmal von Anfang an, diesmal viel langsamer, voller Entsetzen.
Lizzie saß neben ihm auf der Bank und war dankbar für sein Taktgefühl. Sie wäre gestorben, hätte er gefragt, was ihr Kummer bereite. Wie unvorstellbar, dass dieser Mann blutsverwandt mit dem Kind war, das sie erwartete … Welch ein Unterschied zwischen Kit und seinem Vetter! Was würde Edward sagen, wenn er die Wahrheit erführe? Er würde sie nicht verachten, das wusste sie irgendwie, nicht über sie lachen wie die Kolleginnen, ihr nicht erklären, sie müsse das Baby loswerden, es sei nur eine Last, eine Strafe für ihr schandbares Liebesabenteuer.
Sie hatte keine Ahnung, warum sie sich so benahm und wie ein albernes kleines Mädchen in Tränen ausbrach. Vielleicht hing es mit dem Brief ihrer Tante zusammen, den sie an diesem Morgen bekommen hatte, pünktlich wie jeden Monat. Kühle Zeilen, strenge Ermahnungen, die Nichte möge fleißig arbeiten und sich anständig verhalten, solle nicht in schlechte Gesellschaft geraten und stets bedenken, was gut und richtig sei, auch wenn sich heutzutage die Moral erheblich gelockert habe …
Wenn sie doch wagen könnte, ihren Schützling nach seinem Vetter zu fragen … Aber sie hatte Kit versprochen, nichts zu verraten. Plötzlich hörte sie Edward flüstern: „Oh, mein Gott.“
Sofort verdrängte sie ihre eigenen Probleme und hob den Brief, der ihm entglitten war, vomBoden auf. „Was ist denn? Geht es Ihnen nicht gut? Sind Sie …“
„Nein, nein, nichts dergleichen.“ Er umfasste ihre Hände, mit erstaunlich warmem, festem Druck. Aber seine Haut fühlte sich so weich und zart an wie die einer Frau, nicht wie Kits raue, narbige Finger. „Kit … Mein Vetter …“, fuhr Edward fort. „Vielleicht erinnern Sie sich an seinen Besuch. Soeben wurde mir mitgeteilt, dass er im Krieg gefallen ist. Nun muss ich Arrangements treffen, entscheiden, was mit Cottingdean geschehen soll, und seiner Verlobten schreiben. Armes Mädchen … Aber sie wird sicher einen anderen finden, und das ist gut so. Kit hätte einen schlechten Ehemann abgegeben …“
Er verstummte und schrie erschrocken auf, als er in Lizzies Gesicht schaute. Noch nie hatte er eine so wächserne Blässe gesehen. Jeder Blutstropfen schien aus ihren Wangen zu weichen, und sie wirkte wie eine Leiche. Sekundenlang überlegte er sogar erschrocken, ob sie noch lebte. Ihre Brust schien sich kaum zu bewegen. Die Lippen, sonst so voll und hübsch geschwungen, bildeten einen schmalen Strich, die Augen hatten allen Glanz verloren, drückten eisiges Entsetzen und Ungläubigkeit aus.
Nun versuchte sie, zu sprechen. Ihr Mund öffnete sich, aber kein Laut drang heraus. Sie begann am ganzen Körper zu zittern, wie Edward es einmal bei einem Mann beobachtet hatte, der an Malaria erkrankt war. Und ihre Zähne klapperten hörbar. Verzweifelt fürchtete er, sie könnte einen Zusammenbruch erleiden. An diesem Morgen hätte er sich nicht in den Park bringen lassen dürfen. Es war zu kühl, zu feucht. Wie selbstsüchtig von ihm …
Der alte Frust angesichts seiner Hilflosigkeit, seiner Invalidität überrollte ihn
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