Schattenkrieg
behandelten und nicht wie »diese närrische Offizierin, die uns diese Idioten vom Hauptquartier vor die Nase setzen mussten«. Also ließ sie die beiden Soldaten in Frieden und ging auf ihr Zimmer, um ihre Kampfausrüstung zu holen, mitsamt Gewehr und Helm. Wahrscheinlich konnte es nicht schaden, es bei einer Überlandfahrt dabeizuhaben. Anschließend sagte sie Hauptmann Hagen und ihrem Zugfeldwebel Bescheid, dass sie die Basis verließ. Ulrich fand sie nach einigem Suchen beim Dartspiel mit den dienstfreien Unteroffizieren vom vierten Zug und stellte dabei fest, dass sie Ulrich zu keinem Dienst eingeteilt hatte. Der Mann hatte durch ihre Schuld völlig unverdient einen zusätzlichen Tag frei! Doch ihre Laune war zu gut, als dass sie sich jetzt damit auseinandersetzen wollte.
Wassermann wartete schon mit dem Wolf auf dem Appellplatz, als sie aus dem Hauptgebäude trat. Veronika warf ihre Sachen auf die Rückbank und stieg ein. Als sie die Schranke passierten, ignorierte sie das unverschämte Grinsen des wachhabenden Gefreiten, der sich wohl darüber freute, dass sie für die nächste Zeit unbeobachtet waren. Wassermann trat aufs Gas.
»He,
so
eilig haben wir es auch wieder nicht!«, bremste sie ihn. Ein Blick auf die Armbanduhr strafte sie Lügen, aber deshalb wollte sie trotzdem nicht durch die Stadt rasen wie eine Irre. »Wir müssen nicht noch mal jemanden über den Haufen fahren!«
»Ich passe doch auf, Frau Leutnant!«, entgegnete der Gefreite enttäuscht. Er reduzierte aber die Geschwindigkeit auf ein erträgliches Maß.
Die Stadt wirkte ruhig, fast friedlich. Das einzelne Bundeswehrfahrzeug kassierte bei weitem nicht so viele böse Blicke wie die Kolonne, in der sie ihre Patrouillen fuhren. Als sie Gnjilane schließlich hinter sich gelassen hatten, meinte Veronika: »Okay, jetzt können Sie Gas geben, wenn Sie mir versprechen, die Kiste nicht an den nächsten Baum zu setzen!«
Wassermann grinste. »Versprochen, Frau Leutnant!«
Sie bereute ihren Entschluss sofort, aber es war ihr zu peinlich, ihn noch einmal zurückzupfeifen. Also stand sie die Fahrt durch, mit in der Seitentür verkrallter Hand und einem Gebet an ihren Schutzengel.
Zu ihrer Erleichterung kamen sie heil in Kusce an. Erst als sie in die Straße einbogen, in der sich der Unfall ereignet hatte, fiel ihr ein, dass sie keinen Dolmetscher dabei hatte. Milanković wäre ihr zwar ohnehin kaum eine Hilfe gewesen, aber während der Operation hatte Fatima in einem Nebensatz erwähnt, jemanden zu kennen, der den Job vielleicht übernehmen konnte. Sie würde mit ihr darüber reden müssen, und zwar so bald wie möglich. Bis dahin würde sie sich hoffentlich einigermaßen mit den Eltern des Jungen verständigen können.
»Wenn Sie möchten, können Sie auch einen Blick auf den Jungen werfen«, bot sie Wassermann an. »Vielleicht interessiert es Sie. Sie haben ja schließlich viel zu seiner Rettung beigetragen.«
»Danke, Frau Leutnant.«
Nachdem sie sich ihre Gewehre über die Schultern gehängt hatten, gingen sie zur Haustür, die sich öffnete, noch bevor Veronika anklopfen konnte. Die Mutter des Jungen, das Gesicht von mehreren Tüchern vor ihren Blicken verborgen, winkte sie herein. Veronika deutete mit einem betonten Nicken eine Begrüßung an und betrat das Haus, gefolgt von Wassermann.
Der Junge lag unter mehreren Deckenschichten auf einer Bank und schien zu schlafen. Mit einer Geste überließ sie dem Gefreiten den Vortritt, während sie den Blick schweifen ließ. Sie hatte zwar in jener Nacht mehrere Stunden in diesem Raumverbracht, doch da hatte sich alles um den Jungen und seine Verletzung gedreht. Von ihrer Umgebung hatte sie nicht viel mitbekommen.
Der Raum war ungefähr quadratisch und circa vier mal vier Meter groß. Ein Ofen, auf dem ein leerer Topf stand, verbreitete angenehme Wärme. Auf dem Tisch lag allerlei Strickzeug, dazu gleich
drei
angefangene Kleidungsstücke mit zugehörigen Nadeln. Die Wand war an manchen Stellen frisch geweißt, vermutlich um Blutspritzer zu überdecken. Auf einem Fenstersims stand eine Schwarzweißfotografie, die die Familie zeigte: Der Vater hatte sich seither kaum verändert, die Mutter konnte man hinter den Tüchern nur erahnen. Der Sohn postierte vor ihnen und war noch ein gutes Stück kleiner. Rechts und links außen standen zwei weitere, verhüllte Frauen. Veronika fragte sich, ob diese zu den anderen beiden Stricksachen gehörten. Mussten sie sich jetzt vor den westlichen Blicken der
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