Schattenlord 2 - Stadt der goldenen Türme
gesehen hatten. Dass diese Vögel unmöglich irdischen Ursprungs sein konnten. Es durfte nicht in ihr Bewusstsein einsickern, dass Innistìr eine völlig fremde Welt war. Sie benötigten mehr Zeit, um den Sturz in dieses Wunderland samt all seiner Schrecken zu verdauen.
Laura entdeckte Angela Müller. Sie wrang Wäschefetzen aus und nutzte dabei einige wenige Tropfen aus einer halb gefüllten Wasserflasche.
Sie trat zu der zweifachen Mutter und fragte: »Wie geht es ihm?«
»Wolf?« Angela zuckte mit den Schultern. Seit vierundzwanzig Stunden kümmerte sie sich rührend um den Schwerverletzten. »Er erbricht Blut«, flüsterte die geschäftige Frau und flocht ihre Haare neu. »Er hat innere Blutungen, ganz gewiss ...«
»Das bedeutet?« Laura ahnte Böses.
»Ich befürchte, dass ihm nicht einmal mehr ein Arzt helfen könnte und schon gar nicht ohne die notwendige Ausrüstung.«
Laura sah betreten beiseite. Flüssigkeit sammelte sich in ihren Augenwinkeln. »Weiß er es?«
Angela lächelte traurig. »Besser als wir alle. Er spürt es, und er hat sich damit abgefunden.« Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Verdammt! Warum erwischt es einen so grundanständigen Menschen und nicht einen ... einen wie diesen da!«
Sie deutete in Norbert Rimmzahns Richtung. Doch so rasch, wie ihre Wut gekommen war, verflog sie auch wieder. »Verzeih mir, Laura. Ich möchte niemandem etwas Böses. Aber dieser Kerl bereitet uns bloß Schwierigkeiten, seitdem wir hier gestrandet sind.«
»Und dennoch ist er einer von uns.« Laura seufzte. »So leid es mir tut - wir müssen praktisch denken. Wie wird es weitergehen, wenn Wolf ... stirbt? Wer wird dann den Sandsegler steuern?«
Angelas Körper zitterte, sie schlug die Hände vor die Augen. »Wolf hat während des Tages alles unternommen, um uns die Grundregeln der Segelfahrt beizubringen. Und weißt du, wen er insbesondere ins Gebet genommen hat? Sandra! Er wollte dafür sorgen, dass sie unabkömmlich ist, dass dieser Rimmzahn keinen Grund mehr sieht, auf ihrem Fehler herumzureiten und ihre Bestrafung zu fordern. Er hat meine Tochter geschützt und mehr getan, als ich es derzeit könnte.«
Laura trat zu Angela und umarmte sie. Die Frau, etwa fünfunddreißig Jahre alt, so alt, dass sie fast ihre Mutter sein könnte, lehnte sich gegen sie und schluchzte herzzerreißend.
»Ist schon gut ...« Laura redete beruhigend auf Angela ein, streichelte ihr Haar, klopfte ihr auf die Schulter. Sie wollte und wollte sich nicht beruhigen. Das Wäschestück rutschte aus ihren kraftlos gewordenen Fingern und platschte zu Boden.
Laura zog die Frau abseits, weg von all den verständnislos gaffenden Menschen. Hinter einer kleinen Düne setzten sie sich in den Sand. Sie ließ zu, dass Angela sich an ihre Schulter lehnte und stockend zu erzählen begann. Von völlig profanen Dingen. Von Nichtigkeiten. Von Eheproblemen, von den Schwierigkeiten im Umgang mit pubertierenden Kindern, von Mobbing-Attacken in jener Firma, in der sie die Personalabteilung überhatte ... Es waren Themen aus jener Welt, die so weit, weit weg war. Die aus einer anderen Zeit zu stammen schienen und angesichts der Plagen, denen sie in Innistìr ausgesetzt waren, lächerlich anmuteten; und dennoch halfen die Erinnerungen an ein »normales« Leben Angela, allmählich wieder zu sich zu kommen und neue Kraft zu schöpfen.
»Danke«, sagte sie und wischte die Tränen aus den Augen.
»Wofür?«
»Fürs Zuhören. Fürs Dasein.« Angela zupfte ihre völlig zerfetzte Jacke zurecht, so gut es ging, fuhr sich durchs Haar und bemühte sich um aufrechte Haltung. Um Vorbild für den Ehemann und die Kinder zu sein. Um Zuversicht zu zeigen und den anderen Familienmitgliedern Kraft zu geben.
Sie kehrten ins Lager zurück. Mittlerweile brannten mehrere Fackeln; Jack und Cedric kümmerten sich um weitere Sicherheitsvorkehrungen rings um den Sandsegler, der im Zentrum ihrer aller Vorbereitungen stand. Die Tragfläche war von angespitzten Pfosten umgeben, die Taue dienten als versteckte Fangfallen, mehrere kleine Feuer glosten. Sie würden alle während der Nachtstunden auf den Holzplattformen des Katamarans Schlaf finden.
In Laura machte sich ein sonderbares, ungewohntes Gefühl breit: Sie fühlte sich sicher. Welche Tiere auch immer sich unter dem Sand versteckt hielten oder sie als Ziel ihrer Begierden auserkoren - sie waren darauf vorbereitet. Die letzte Nacht hatte sie einiges über Innistìr gelehrt.
»Was, wenn Najid unsere Feuer
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