Schattenlord 7 - Das blaue Mal
keine Vorstellung davon, wozu Lirla fähig ist. Ich bitte dich inständig! Zwölf Schläge sind das, was sie als angemessen betrachten würde.«
Zoe hob den Arm. Sie zögerte. Lange. Sie wollte zuschlagen, sie wollte es so sehr ... Sie war von Magie umgeben, wurde von ihr eingewickelt, liebkost und gestreichelt. Stimmen flüsterten ihr ins Ohr: »Tu’s! Es ist niemand da außer dir und dieser nutzlosen Schlampe. Du bist die Regentin, du bist niemandem Rechenschaft schuldig. Tu’s!«
Aramies Blicke waren leer. Sie erwartete die Hiebe, als wären sie eine Selbstverständlichkeit in ihrem Leben. Als hätte sie ihr Leben lang physische und psychische Gewalt erfahren.
Die Stimmen der Geister wurden lauter. Sie schrien nun. Sie kreischten und wimmerten, wollten sich unter ihre Haut wühlen und Besitz von Zoe nehmen. Wie gewaltige Wogen brandeten sie gegen ihre Widerstandskraft, untergruben ihre moralischen Ansichten, überdeckten jeglichen Gedanken an ein schlechtes Gewissen.
Sie selbst möchte es! Andernfalls wird sie von Lirla gezüchtigt; du tust ihr doch bloß einen Gefallen. Tu’s! Es ist ganz leicht. Einfach zuschlagen. Ohne nachzudenken. Mach es!
Zoe holte aus - und hielt inne.
Da war etwas in ihr. Eine ganz besondere Kraft, aus der sie schöpfte. Eine, die sie sich niemals zuvor bewusst gemacht hatte. Die sich nun wie ein Schutzfilm um ihren Körper zog und sie daran hinderte, das zu tun, was die magischen Stimmen von ihr verlangten.
Sie drehte sich um, sodass sie Aramie nicht mehr in die Augen sehen musste. »Geh!«, befahl sie.
»Aber Herrin ...« Die Stimme der Dienerin klang weinerlich. Verzweifelt.
»Geh, hab ich gesagt!«
»Jawohl, Herrin.« Schmale Füße tapsten über steinernen Boden. Die Tür öffnete und schloss sich. Die magischen Stimmen wurden leiser. Sie waren enttäuscht und zornig gleichermaßen. Und sie schworen, bald wieder zurückzukehren, stärker als zuvor.
Dann herrschte Stille. Der ganze Palast schien den Atem anzuhalten, die Zeit blieb stehen. Zoe hatte etwas Unerhörtes getan. Etwas, das nicht in die Pläne der Herrschenden passte und das womöglich ihr Todesurteil bedeutete.
Dann sterbe ich eben, aber ich tu es mit einem reinen Gewissen.
Wind fuhr durch eines der kleinen Bullaugenfenster. Er schlug den Laden klappernd gegen die metallene Einfassung. Teufel war mit einem Mal da. Er flatterte aufgeregt zwischen von der Decke herabhängenden Stoffbahnen umher und krächzte lautstark. Es klang wie ein böses Lachen.
4
Intermezzo:
Die Wahrheit über
Dar Anuin (II)
F ünfhundert Tage sind nunmehr vergangen - und wie ich es euch prophezeite, haben wir in dieser Zeit mehr erreicht, als wir uns bei unserer Ankunft hatten vorstellen können.« Shire tastete über ihr Mal, als müsste sie sich davon überzeugen, dass es noch da war. »Der Vulkanboden ist von allen schlechten Einflüssen gereinigt. Wir haben uns gegen Steinschlag gesichert, die Ernte wird gut ausfallen, und es steht uns mehr Wohnraum zur Verfügung, als wir nutzen können.«
Sie blickte hinüber zum Weißen Haus, das sie so sehr liebte und in dessen verwinkelt angelegten Räumlichkeiten sie sich immer wieder verlieren konnte. Um über die Arbeit und ihr gemeinsames Schicksal zu reflektieren. Um zu faulenzen. Um über die Zukunft nachzudenken, gemeinsam mit der Schwarzseherin, die sich in letzter Zeit und wider Erwarten zu ihrer wertvollsten Helferin entwickelt hatte.
Auch diesmal stand Arachie Larma an ihrer Seite, wie meist mit einer Strickarbeit aus hauchdünnem Stoff beschäftigt; sobald sie fertig war, legte sie sie als Tuch über ihren Kopf. Mehr als zwei Dutzend Schichten mummten sie mittlerweile ein. Sobald der Stoff zu schwer war, sodass sie am Morgen ihr Haupt nicht mehr erheben konnte, so wusste die Schwarzseherin, würde sie sterben.
Nach Shires Schätzung blieben der Freundin bestenfalls noch dreitausend Tage.
Sie darf nicht so früh sterben! Ich benötige ihre Hilfe, ihren Rat, ihre moralische Unterstützung!
»Aus neun wurden drei Dutzend, aus drei Dutzend mehr als zweihundert«, lenkte sie die Schwarzseherin von ihren trüben Gedanken ab.
»Und noch lange nicht ist ein Ende abzusehen.« Shire blickte über unzählige Köpfe hinweg. »Siedler strömen in Scharen herbei. Sie wissen, was Dar Anuin dereinst für eine Bedeutung haben wird.«
Arachie Larma nickte. Sie wirkte nicht sonderlich überzeugt.
Was wusste sie über das Schicksal der Stadt? Würde es ihnen gelingen, Dar Anuin zu einem
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