Schattenmacht
Ende, und etwas Ruhe kehrte ein. Die Ärzte hatten getan, was sie konnten. Die Verwundeten ruhten. Und die, die zum Sterben auserwählt worden waren, hatten es getan, still und ohne Widerspruch. Jamie war todmüde. Das lag zum Teil an den Anstrengungen der Schlacht und den vielen Stunden Arbeit danach. Aber es war noch etwas anderes – eine Reaktion auf alles, was er durchgemacht hatte. Es war so viel passiert in so kurzer Zeit. Er war sowohl geistig als auch körperlich erschöpft.
Dann kam Flint zurück. Jamie hatte sich schon gefragt, wo sein Bruder steckte – er betrachtete ihn als seinen Bruder, auch wenn er es eigentlich nicht war –, aber jetzt saß er auf einem Wagen, der mit Säcken und Fässern beladen war. Er hatte sechs Männer bei sich, die alle ähnlich volle Wagen lenkten. Sie fuhren mitten aufs Feld und hielten. Flint sprang vom Kutschbock.
»Wir haben Essen gefunden!«, rief er. »Die Alten hatten ein Lager auf der anderen Seite des Tals, und sie haben natürlich die besten Vorräte für sich selbst behalten. Wir haben Brot und Wein, Käse, Trockenfleisch und Obst. Also entzündet ein Feuer
– heute Abend werden wir gut essen!«
Rund dreihundert Männer, Frauen und Kinder, die die Schlacht unverletzt überstanden hatten, ließen ihrer Begeisterung freien Lauf, als sie Flints Neuigkeit hörten. Auch Jamie stimmte in das Jubelgeschrei ein. Er wusste genau, wenn Scott hier gewesen wäre, hätte er das Essen gefunden. So war es immer gewesen. Scott hatte immer etwas für sie beide besorgt, wenn es nötig war. Je mehr Jamie darüber nachdachte, desto überzeugter war er, dass Scott und Flint dieselbe Person waren – genau wie er und Sapling mehr oder weniger die gleichen waren. Das war natürlich unmöglich. Aber das war auch alles andere, was er erlebt hatte.
Die Überlebenden waren zweifellos genauso erschöpft wie Jamie, aber sie mobilisierten ihre letzten Kräfte. Erst entzündeten sie ein riesiges Feuer aus weggeworfenen Waffen, Ästen aus dem Wald und ihrem Katapult, das sie dazu in seine Bestandteile zerlegen mussten. Sie breiteten Decken und Teppiche vor den Zelten aus. Dann luden sie die Wagen ab, verteilten die Vorräte und sorgten dafür, dass auch die Verwundeten etwas bekamen. Schon kurze Zeit später hatte sich das Feld des Todes in ein riesiges Freiluftbankett verwandelt.
Für Jamie und die anderen Torhüter war ein wenig abseits ein Tisch mit fünf Klappstühlen aufgestellt worden. Matt war schon dort und sprach mit Inti, aber die beiden verstummten, als Jamie kam. Matt schenkte eine Schale voll Wein ein und reichte sie ihm.
»Es ist schön, dich hier zu haben«, sagte er.
Dann kamen auch Flint und Scar. Falls Scar über den Verlust ihres Freundes Finn trauerte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie ließ sich auf einen der Stühle fallen, schenkte sich selbst Wein ein, stürzte ihn hinunter und nahm sich sofort eine zweite Schale.
Flint hatte sich neben Jamie gesetzt. »Hast du die Sterne gesehen?«, fragte er.
Jamie schaute nach oben, wo es überall funkelte. »Es ist eine wundervolle Nacht«, sagte er.
»Ich habe die Sterne noch nie gesehen. Mein ganzes Leben lang gab es immer nur Wolken.« Flint legte den Kopf zurück und starrte ebenfalls in den Himmel. »Die Leute haben zwar behauptet, dass der Himmel früher manchmal auch so ausgesehen hat, aber ich habe ihnen das nie geglaubt.«
Jamie hätte die Menschen, die auf ihn zugekommen waren, als er den Verwundeten Wasser brachte, nicht zählen können, aber als das Festessen begann, blieben die Fünf unter sich. Es war, als hätten die Menschen beschlossen, sie in Ruhe zu lassen – und diese Ruhe hatten sie auch nötig. Sie tranken noch mehr Wein und aßen weichen Käse und irgendwelches Fleisch mit zähem Brot. Jamie war erstaunt, wie hungrig er war. Aber schließlich hatte er in den letzten beiden Tagen kaum etwas gegessen.
In einem anderen Teil des Feldes ertönte eine Flöte. Einen Moment später nahmen eine Trommel und irgendein Instrument mit einer einzigen Saite die Melodie auf. Die Flammen des Lagerfeuers schlugen hoch, und Funken flogen in den Himmel.
Scar sah Matt an. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie. »Und bevor du etwas sagst – es tut mir leid. Ich hätte dich wegen Scathack Hill und allem nicht anschreien sollen. Aber woher sollte ich das wissen? Du bist nur ein Junge. Ich weiß ja nicht einmal, wer dich zu unserem Anführer gemacht hat.«
»Heute ist es zu spät für lange Erklärungen«,
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