Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
es ein wolkenbedeckter und doch helllichter Tag war, schufen die dichten Nadelbäume eine undurchdringliche und beengende Finsternis, der Fahrer schaltete das Licht ein. Nach fünf Minuten bog er nach links ab, kurze Zeit später nach rechts. Nirgendwo stand ein Hinweisschild, er kannte den Weg.
Nochmals zehn Minuten später fuhren sie einen Hügel hinauf und erreichten eine Lichtung, auf der ein heruntergekommenes Landhaus aus Holz stand. Würde man Martin und Jerome in dieser Einöde aussetzen, sie hätten den Weg nicht wieder zurückgefunden. Zu unwegsam war das Gebiet, es gab keinen Funkmast in der näheren Umgebung und hätte Martin noch ein Handy besessen, er hätte es nicht benutzen können. Er wollte sich eigentlich so schnell wie möglich ein neues besorgen, ein einfaches Gerät ohne überflüssigen elektronischen Ballast und eine SIM-Karte, die er benutzen und wieder auswechseln könnte. Es fühlte sich nackt an, nicht erreicht werden und niemanden anrufen zu können, andererseits hatte es einen großen entspannenden Vorteil: Niemand konnte ihn in dieser Einöde für etwas belangen, womit er nichts zu tun hatte, niemand ihn einer Tat beschuldigen, die er nicht begangen hatte. Außerdem war er nicht allein. Er hatte Jerome an seiner Seite, den, der souverän und selbstsicher wirkte, der ihm helfen würde, das Knäuel aus Lügen, Intrigen und Korruption zu entflechten. Einen besseren Spitzel hätte er sich gar nicht wünschen können. Warum also sollte er von hier fliehen wollen, womöglich nachts, in einem Wald, in den, gemäß einem Artikel, den er kürzlich gelesen hatte, die Wölfe zurückgekehrt waren.
Sokolow öffnete die Tür seiner Datscha und gab dem Fahrer einige Anweisungen in einer Sprache, die auch Jerome nicht verstand.
Dieser nickte brummend, ging zum Wagen zurück und fuhr ihn um die Ecke des Hauses herum in eine Garage. Sokolow stand, auf Krücken gestützt, und winkte Martin und Jerome herein. Er begrüßte sie wortkarg, im ersten Moment vielleicht unsicher, ob er es mit den richtigen Männern zu tun hatte. Seine Sprache, wenn auch in deutsche Worte gehüllt, war nur mäßig zu verstehen. Der missglückte Versuch, seine Zunge zu amputieren, hatte Spuren hinterlassen. Selbst wenn Gesichtschirurgen versucht hatten, durch Lösen des Zungengrundes die Beweglichkeit des Muskels zu verbessern, hatte die Phonetik ein wenig gelitten. Wer ihn länger kannte wie sein treuer Gefährte und Fahrer, hatte sich daran gewöhnt. Jemand, der ihn zum ersten Mal traf, meinte, ein unhöfliches Nuscheln entgegengebracht zu bekommen.
Höflichkeit spielte jedoch in Sokolows Leben keine Rolle mehr. Er war froh, noch am Leben zu sein, obgleich der Begriff ›Leben‹ mit anderen Attributen angefüllt werden wollte, als Sokolow es vermochte. Er war ein gebrochener Mann, verbittert und auf Rache aus, beseelt von dem einen Wunsch, Vergeltung an denen zu üben, die sein Leben, seinen Beruf und seine herausragende Reputation als Wissenschaftler vernichtet hatten. An der Gruppe von Menschen, die sich für etwas Besseres hielten, die sich die ›Auserwählten‹ nannten.
Sergej Sokolow stützte sich auf seinen Stöcken ab, die ihm das Gehen ermöglichten. Seine Beine waren steif wie russische Eichenstämme, die Kniegelenke zerschossen und notdürftig wieder zusammengeflickt. Narben an den Wangen zeugten von heftigen Schlägen ins Gesicht, von Wut und Lust am Foltern. Sokolow ignorierte Martin und bedachte Jerome mit einem sonderbaren Blick.
»Sie sind also der Mann, dem ich das hier zu verdanken habe?«, sagte Sokolow, an Jerome gewandt, und deutete auf den trostlosen Raum der Landhütte.
Jerome verstand die zweideutig gemeinten Worte. Absichtlich gewählt, nicht versehentlich in Ermangelung besserer Sprachkenntnisse verwechselt. »Sie verdanken mir Ihr Leben, ja, Ihrem Sohn verdanken Sie den Transport und Ihren unfähigen Ärzten den Rest. Sie schulden mir einen Gefallen. Alles in allem aber verdanken Sie Ihr Desaster Ihrer eigenen Dummheit.«
Martin erschrak über Jeromes frechen Ton. Sie waren Gäste bei Sokolow und er wagte es, ihn derart zu beleidigen. Umso erstaunter war er, dass Sergej diese Worte bestätigte.
Sokolow senkte den Kopf. »Sie haben ja recht. Ich hätte auf Sie hören sollen. Ich war ein geldgieriger und profilneurotischer Idiot. Wie kann man glauben, fünf Millionen Euro für seine Arbeit zu bekommen, wenn die Geldgeber Verbrecher sind.«
Sokolow wandte sich zu Martin um.
»Verzeihen Sie
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