Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
auf seinem Display. Es klingelte am anderen Ende in Winsen-Luhe, ohne dass jemand den Anruf entgegennahm. Zehnmal, fünfzehn Mal. Dann drückte Martin die Stopptaste. Zu seiner Traurigkeit gesellte sich Resignation hinzu.
Er ließ das Handy auf den Schreibtisch schlittern, lehnte sich zurück. Er wusste von Feldmanns Plänen, mit seinem neuen Wohnmobil Europa zu erkunden. Österreich, Italien, Frankreich, vielleicht bis nach Spanien und Portugal. Zeitlos, unbeschwert, sich erholend von den Strapazen der Entführung, auf dem Weg zurück zu sich selbst und zu Gott. Dem Gott, wie er wirklich war, nicht dem, den er aus Büchern kannte. Den er in der Einsamkeit und in der Natur wiederfinden wollte.
Martin schloss die Augen.
Am nächsten Tag sollte die Beerdigung von Klaus Schöller stattfinden.
Er würde da sein – vielleicht.
Er würde sich des Falles annehmen – vielleicht.
Er würde Catherine sagen müssen, dass Werner den Chip entschlüsselt hätte und sie zusammen den Mörder von Klaus suchen wollten – vielleicht.
In diesem Augenblick der größten Unentschlossenheit vibrierte sein Handy, bevor es klingelte. Er schnellte vor und nahm es in die Hand. Die Nummer, die er las, stimmte ihn hoffnungsvoll.
Kapitel 14
November 2010, Hamburg
Bereits beim zweiten Klingeln des Krisentelefons brach Schöller der Schweiß aus. Eine klassische Konditionierung wie bei einem Köter aus Pawlow’schen Experimenten: Klingeln bedeutete Anschiss, bedeutete Schweiß.
Der Tag der Abrechnung war gekommen. Er sollte sich rechtfertigen, die Ermittlungsergebnisse der letzten sechs Monate auf den Tisch legen. Vor allem erwartete man von ihm, dass er die Fragen beantwortete, die man ihm während der letzten Videokonferenz gestellt hatte. Sechs Monate hatte man ihm gegeben und es waren sechs beschissene, erfolglose Monate gewesen. Zu allem Übel trieb ein wahnsinniger Serienkiller in Hamburg sein Unwesen. Er brachte ältere Leute um, die siebzig Jahre zuvor in einem Lebensbornheim zur Welt gekommen waren. Sie strebten einen Prozess an, der ihnen ihre Identität zurückgab. Reinhard Schöller konnte es nicht mehr hören. Für viele Jahre war es ruhig um die Nazithemen gewesen und nun kam schon wieder dieses Thema auf den Tisch. Und mit jedem neuen Graben in der Vergangenheit musste er um die Aufdeckung seiner eigenen Vergangenheit fürchten, genauer gesagt, der seines Vaters.
Wie schon im März verbarrikadierte er sich in seinem Arbeitszimmer, nahm den Hörer ab und wusste bei der ersten Silbe des Anrufers, dass die Leitung für eine Videokonferenz stand. Er fuhr den Laptop hoch und sah sich erneut ernsten Gesichtern gegenüber, nur dass diesmal Wieland fehlte. Auch der Fuchs fehlte. Dafür saß dort Wirringer, Bladeck an seiner Seite. Dies machte die Situation nicht entspannter, im Gegenteil. Wenn Wirringer den Daumen hob oder senkte, folgten entsprechende Handlungen.
»Ja, ich höre.«
Bladeck legte ein falsches Grinsen auf.
»Hallo, Reinhard. Wie geht es dir, alter Junge?«
»Komm zur Sache. Wie soll es mir gehen? Beschissen geht es mir.«
»Dann hast du es auch schon gehört?«
»Wenn du dieses Arschloch meinst, den Typen, der unter einem Pseudonym sein Unwesen treibt, dann … ja.«
»Er nennt sich ›The Voice of the People‹, die Stimme des Volkes. Ich lach mich tot.«
Gemeint waren Artikel eines Mannes, der frech in diversen Foren und Blogs über die Bilderberger und all ihre Machenschaften schwadronierte. Erstaunliche Berichte, intime Details, klug recherchierte Zusammenhänge. Die Stimme eines Rufers in der Wüste. Wie Johannes der Täufer. Nur dass er nicht den Messias ankündigt, sondern den Teufel.
»Er warnt die Bevölkerung vor der Einführung des Bio-Chips. Er klärt über You Tube die Massen auf. Er hat bereits über 3 Millionen User. Was jedoch das Schlimmste ist, er zitiert Teile von Gesprächen aus dem letzten Treffen wortgetreu. Er zitiert Rosenthal, nennt ihn ein verlogenes Arschloch, der den Bilderbergern wie ein dressierter Köter gehorcht. Er verhöhnt das Banksystem, legt präzise dar, wie das Bankgeheimnis in den nächsten Jahren aufgeweicht werden soll. Philosophiert über die Abschaffung des Geldes mit einer Brillanz, dass sich jeder fragt: Wer, um alles in der Welt, ist dieser Mann, der sich The Voice nennt.«
Schöller nickte auf seiner Seite der Konferenz im heimischen Büro. Er hasste diese Art der Zusammenkünfte, gefangen vor einem toten Bildschirm, auf dem sich lebendige Lippen
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