Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
ihm alle im Halbkreis gegenüber. Freunde wie Feinde gleichermaßen, geeinigt durch den Abschied von Klaus, zumindest von dem, was noch von ihm übrig geblieben war. Jerome kannte die meisten von ihnen. Die ganze Szene der Korrupten, der Bestechlichen, der Kleingauner und Großgauner, der Betrüger und Handlanger, der guten Kriminellen und der bösen und von solchen, die damit noch Karriere machen wollten, waren anwesend. Die Gemeinschaft der Scheinheiligen, Seite an Seite mit dem Mann, der unter seinen Fingernägeln noch Hautpartikel hatte, im Todeskampf von Klaus vererbt.
Eine Farce, ein Hohn auf die Worte der Grabredner, dass sogar der Himmel grollte, anfing zu weinen und bittere Tropfen zu Boden schickte, die auf Regenschirme klatschten.
Hartmut Kraus beobachtete sie alle, wie sie nebeneinander standen, mit verschränkten Armen vor dem Bauch oder hinter dem Rücken. Er als ehemaliger Top-Journalist, ein in der Wüste Rufender, als er noch als lebendiger Mensch unter seinesgleichen herumspazieren konnte. Als er noch nicht für tot gehalten wurde, vermisst, verschollen, unauffindbar, wie auch immer. Der nur noch ein Geist in den Köpfen und Akten der Jäger war, ein überaus lebendiger jedoch, wie man seit Kurzem wieder befürchtete. Der heute hier so dicht vor ihnen stand, dass sie ihn hätten ergreifen können, sofern sie ihn erkannt hätten. Sie hätten ihn riechen können, doch der Geruch von Hartmut Kraus war nicht derselbe wie von Jerome, Marcel, Louis, Karl oder Phillip. Er war ein Meister der Täuschung geworden und er genoss dieses adrenalingeschwängerte Spiel.
Er hatte seine Pillen jedoch vergessen und so bescherte ihm das Fortschreiten des Zeigers auf der Uhr große Not. Zappeliger und zittriger als ihm lieb war, ballte er die Fäuste zusammen. Erste Schweißtropfen rannen entlang der Wirbelsäule, krochen unter der Maske zu den braunen Augen, dem einzigen Detail, das er nicht verändert hatte. Hätte er Kontaktlinsen vertragen, hätte er blaue oder grüne wählen können, doch diese Möglichkeit blieb ihm aus Allergiegründen verwehrt. Abwischen konnte er die kitzelnden Tropfen nicht, es hätte die Struktur des empfindlichen Silikons beschädigen können. Also trug er das Unveränderliche mit Unmut. Er vergrub die Hände in den Manteltaschen und seine Finger spielten mit dem Messer. Die gesprochenen Worte fanden keinen Zugang mehr zu seinem Gehirn und verstummten, als hätte man den Regler eines Radios langsam zurückgedreht.
Er registrierte, dass sich Lippen bewegten, doch seine Erinnerungen schweiften in vergangene Zeiten ab.
Er sah sich als Neunzehnjährigen von zu Hause ausziehen. Das saufende Elternpaar, das ihn adoptiert, verspottet und als Putzhilfe ausgenutzt hatte. Die, die keine eigenen Kinder bekommen konnten und für den Fall dessen, dass sie doch welche auf die Welt gebracht hätten, wären diese mit Sicherheit genauso gestört und verkorkst geworden wie sie selbst. Vom Suff gezeichnet, die Gene beschädigt und der Perspektive auf ein normales Leben beraubt.
Doch er? Er war nicht wie sie. Er war anders. Das spürte er früh. Er war schlauer, verwegener, mutiger. Irgendwann, als er sechzehn oder siebzehn war, hatten sie sich verplappert. Hatten ihm lallend verkündet, dass er, so wörtlich, ein Haufen Scheiße sei, den ein anderer in die Welt geschissen hätte, von einem, den sie nicht kennen würden. Sei ihnen auch völlig schnuppe gewesen, Hauptsache regelmäßige Kohle, wenn auch anonym, und jemand da, der ihnen den Mist wegräumte. Nach dieser unbeabsichtigten Verlautbarung hatte er noch genau 18 Monate die Zähne zusammengebissen und an dem Tag, an dem er trotz aller Widrigkeiten das Abitur in der Tasche hatte, haute er ab. Ohne Brief, den Schlüssel auf dem Küchentisch deponiert, die wichtigsten Klamotten aus dem Schrank und die Kohle aus der Kaffeedose – immerhin 2500DM – machte er sich auf den Weg in sein unbekanntes Leben. Wer er war, wusste er nicht, wer er nicht sein wollte, sehr wohl, aber getrieben von dem unbändigen Verlangen, Ersteres herauszufinden. Er wollte denjenigen finden, der es gewagt hatte, ihn wegzugeben, wollte ihn zur Rede stellen, ihm aufs Maul hauen, es ihm heimzahlen für die widerlichste aller Sünden: sein eigenes Kind, aus welchen Gründen auch immer, an solche Bestien auszuliefern.
Die Suche nach den Eltern gestaltete sich schwierig. Das erste Jahr schnorrte er sich durch jede WG, die ihn aufnahm. Nach einer Weile des Überdrusses war er
Weitere Kostenlose Bücher