Schattenmelodie
Rücken befand. Er stand bereits bis zu den Oberschenkeln im Wasser und wollte gerade eintauchen. Was sollte ich tun? Körperlich war ich ihm unterlegen und konnte ihn bestimmt nicht aufhalten.
Aber … die Aktentasche! Sie schien ihm sehr wichtig zu sein! In Bruchteilen einer Sekunde manifestierte ich mich, griff unter seinen Arm, entriss ihm die Tasche und versuchte, mich wieder zu dematerialisieren, um mich mit ihr davonzumachen.
Doch Tanaka war schneller. Er fuhr herum, packte mich an den Haaren und zog mich ins Wasser. Es tat höllisch weh. Ich schrie. Ich schrie aus Leibeskräften, damit Janus mich hören konnte. Dann stolperte ich und bekam keine Luft mehr, weil mich Tanaka unter Wasser drückte. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, aber er zog mich unerbittlich mit sich fort. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf die Unterwasserwelt. Der Grund des Sees schimmerte in den gleichen Farben wie die Kristalle, die von der Decke hingen, nur dass er glatt und eben aussah wie in einem Pool. Panik ergriff mich. Ich brauchte Sauerstoff. Ich schlug wie wild um mich.
Und auf einmal tauchte eine junge Frau vor mir auf. Das musste meine Mutter sein. Meine Mutter, wie sie in der Ostsee ertrank. Aber nein, sie war doch gar nicht ertrunken. Sie war in einem Durchgang ums Leben gekommen. … Und ich ertrank jetzt an ihrer Stelle, damit die Geschichte wieder stimmte. Damit die Geschichte wieder stimmte? Meine Gedanken verselbstständigten sich wohl und fügten sich zu Blödsinn zusammen. Das war der Sauerstoffmangel. Ich musste Atmen. Dringend!
In diesem Moment riss mich etwas von der anderen Seite an den Armen hoch. Tanaka ließ meine Haare los. Der Schmerz auf meinem Kopf war so rasend, dass ich sicher war, skalpiert worden zu sein. Aber ich konnte wieder atmen. Ich fühlte, wie endlich Luft in meine Lungen strömte, und das war wesentlicher als jeder Schmerz. Ich schnappte und schnappte nach Luft, hustete Wasser aus und schnappte wieder nach Luft. Jetzt wurde ich ganz aus dem Wasser gehoben. Alles drehte sich um mich. Jemand klopfte mir auf den Rücken. Ich fühlte festen Boden unter mir. Ich war auf dem Trocknen. Und dann hörte ich Kiras Stimme.
„Huste weiter. Huste das Wasser raus.“ Sie klopfte mir erneut auf den Rücken. „Gut so. Gleich ist es geschafft.“
Langsam begann sich meine Atmung wieder zu normalisieren.
Ich befand mich zwischen zwei riesigen Steinen am Ufer. Kira saß hinter mir und stützte mich.
„Kira … Was machst du hier?“
„Dir das Leben retten“, antwortete sie.
Ich sah, wie Sulannia, Ranja und Marco Haruto Tanaka aus dem Wasser schleiften, der sich kräftig wehrte, aber gegen die drei keine Chance hatte. Sie zerrten ihn neben uns auf die Steine und fesselten ihn mit Feuerringen an Händen und Füßen, die Ranja mit ihrem kleinen Besen erzeugte. Tanaka stieß eine Reihe von Flüchen aus, ehe er endlich realisierte, dass Gegenwehr zwecklos war.
„Ich prüfe nach, ob es sich um einen Durchgang handelt“, sagte Sulannia und begab sich wieder in das Wasser.
Kurz nachdem sie unter der Wasseroberfläche verschwunden war, traten Kim und Jolly aus dem Gang in die Grotte. Und dann Janus. Er erblickte mich und rannte auf uns zu.
„Neve! Was ist passiert?“
„Ich hab ihn aufgehalten“, flüsterte ich stolz und hustete dabei noch einmal Wasser.
„Neve …“, wiederholte Janus entsetzt. „Hat er versucht, dich umzubringen?“
„Ich war noch rechtzeitig da“, sagte Kira. „Wurde auch mal Zeit, dass ich mich revanchiere.“
Janus nahm meine Hand. „Aber … Du hättest warten müssen. Das war viel zu gefährlich. Du kannst dich nicht einfach in Lebensgefahr …“
„Es war wichtig.“
„Ja, aber …“
„Ich dachte, du wärst stolz auf mich“, schmollte ich.
Janus seufzte und strich mir über den Handrücken: „Das bin ich. Ich will dich nur auf keinen Fall verlieren.“
Kim und Jolly ließen sich von Ranja und Marco berichten, was geschehen war.
„Das war knapp“, ergriff Jolly das Wort. „Ohne Neve wären wir zu spät gekommen.“ Jolly sah zu mir herüber. Anerkennung lag in seinem Gesichtsausdruck. Ich kam mir auf einmal sehr erwachsen vor, stark, lebendig und mutig.
„Dieser Mann heißt Haruto Tanaka. Er hat das Haus am Wetterplatz gekauft“, erklärte ich.
Das Wasser in der Grotte geriet in Bewegung. Sulannia tauchte wieder auf und stieg ans Ufer. Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
„Ja, es ist ein Durchgang“, berichtete sie.
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