Schattenmelodie
strahlte Autorität aus. Bei Vorlesungen in der Uni trauten sich bestimmt nur die selbstsichersten Studierenden, ihm Fragen zu stellen. Ihn gar zu kritisieren wagte bestimmt niemand. Augenblicklich wusste ich, von wem Charlie ihre Ausstrahlung geerbt hatte und verstand, warum sie sich von ihrem Vater einschüchtern ließ, obwohl sie sonst so offen, lebendig und selbstbewusst wirkte.
„Hallo, ich bin Neve. Ich wollte zu …“
Bevor ich den Satz zu Ende gebracht hatte, antwortete er: „Charlotte wohnt hier nicht mehr.“ Er bedachte mich mit einem Blick, als wäre ich eine minderwertige Kreatur, und war im Begriff, die Tür wieder zu schließen.
„Wo wohnt sie denn jetzt?“, fragte ich hastig.
Er ließ die Tür nur einen Spaltbreit offen und antwortete: „Das weiß ich nicht. Und das interessiert mich auch nicht.“
Dann fiel die Tür ins Schloss. Ich stand auf dem Treppenabsatz und starrte vor mich hin. Charlie wohnte nicht mehr hier. Es musste also zu einem Eklat gekommen sein zwischen ihr und ihrem Vater. Langsam drehte ich mich um und verließ den Garten. Irgendwie war ich erleichtert, dass sie nicht mehr dort wohnte.
Gleichzeitig machte ich mir Sorgen. Was war geschehen? Wie ging es ihr? Wo war sie jetzt?
Ich löste mich auf und rauschte durch die Luft Richtung Stadt. Ich würde Tom fragen. Tom wusste hoffentlich Bescheid.
Die Tür, vor der ich jetzt stand, öffnete sich gleich nach dem ersten Klingeln und Tom stand vor mir.
„Neve!“, rief er und umarmte mich freudig, als hätten wir uns viele Jahre nicht gesehen. Er schob mich von sich, hielt mich mit beiden Händen an meinen Schultern und flüsterte andächtig: „Neve.“
Sein Tonfall verriet so einiges und in seinem Blick ließ sich alles lesen. Er wusste über mich Bescheid. Er wusste, was im Labor geschehen war und er kannte meine wahre Geschichte.
„Wie geht es dir denn?“, fragte er mich, als wäre mein Dasein irgendwie ein sehr seltsamer Zustand.
Ich schmunzelte. „Gut geht es mir. Sehr gut.“
„Möchtest du reinkommen?“ Jetzt klang seine Stimme ehrfürchtig und sein Blick war so forschend, als könnte es ihm gelingen, mir meine magischen Begabungen anzusehen. Ich hörte Schritte hinter ihm, und dann sah ich Charlie, wie sie langsam auf uns zukam. Sie trug Leggins, ein weites Hemd und Hauspantoffeln. Was ihre Aufmachung ausdrückte, war nicht fehlzudeuten. Sie war bei Tom eingezogen.
Tom schob mich in den Flur und schloss die Tür hinter uns.
Für einige Sekunden standen Charlie und ich uns gegenüber. Sie schaute mich aus ihren großen, dunklen Augen an wie ein Wunder. Dann tat sie zwei Schritte auf mich zu und umarmte mich wortlos.
„Ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn du … wenn dir etwas …“ Hastig löste sie sich wieder von mir und sah mich mit einem schmerzerfüllten Blick an. „Wie sollst du mir jemals meine Dummheit vergeben können?“
Jetzt war ich es, die sie umarmte. „Du? Ich war es doch, die sich ziemlich dumm verhalten hat. Du konntest doch nicht ahnen, dass …“
„Natürlich, du hast es mir doch immer wieder gesagt!“
Wir lösten uns voneinander und ich breitete die Arme in einer hilflosen Geste aus. „In deinen Ohren habe ich nichts weiter als Märchen erzählt.“
Charlie raufte sich die Haare und lächelte. „Das hast du. Wahre Märchen. Es gibt wahre Märchen! Ich kann es immer noch nicht glauben“, sagte sie und schob dann schnell hinterher, wobei ihre Stimme merklich lauter wurde und euphorisch klang: „Doch, ich kann es glauben. Ich glaube es! Meine Güte, ich glaube es einfach. Ich habe es ja selbst gesehen. Und das habe ich dir zu verdanken. Dir und dieser verrückten magischen Welt, aus der du stammst.“ Sie strahlte mich an.
„Ich stamme doch nicht aus der magischen Welt. Ich bin hier geboren, in Brandenburg, ganz normal.“
Tom stand die ganze Zeit neben uns und meldete sich erst jetzt wieder zu Wort: „Soll ich uns einen Kakao mit Rum machen?“
„Ja!“, riefen wir gleichzeitig. In dem Moment fühlte ich mich Charlie sehr nah. Ich hätte niemals gedacht, dass sie einmal solche Gefühle in mir auslösen würde. Ich war so glücklich, dass meine gefährliche Mission geglückt war. Ich hatte es geschafft. Ich war nicht nur irgendein vorsichtiger Engel. Ich war ein Engel mit Mumm in den Knochen, und mit einem starken Herzen.
Wir gingen ins Wohnzimmer. Hier war es jetzt richtig gemütlich, seit Charlie eingezogen war. Bunte Kissen lagen im Kreis auf den
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