Schattenmelodie
tief durch. So was Albernes. Ich hatte mich, ohne mit der Wimper zu zucken, zweimal in Lebensgefahr gebracht. Ich hatte Janus schon auf Schulter, Arme, Brust geküsst. Und jetzt so ein Theater wegen eines Kusses auf den Mund.
Trotzdem, wie sollte ich das bloß hinkriegen, wenn mein Herz solche Kapriolen schlug, allein wenn ich nur daran dachte?
Ich gab mir einen Ruck und setzte mich in Bewegung, Richtung Antiquariat. Immer wieder sah ich vor mir, wie Charlie und Tom mir aneinandergeschmiegt gegenübergesessen hatten und wie sie sich einen Kuss gegeben hatten. Einfach die Augen schließen und … nicht an Nacktschnecken denken, sondern an Janus und seinen schönen, weichen Mund, den ich doch bereits auf meiner Haut gespürt hatte.
Schon stand ich im Hof vor dem Eingang des Antiquariats, spähte durch die Fenster in den Raum, entdeckte, dass das Feuer im Kamin prasselte, konnte aber niemanden sehen.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
Ich räusperte mich und griff nach der Türklinke. Die Tür war offen. Ich trat ein. Sofort umfingen mich eine behagliche Wärme und leise Musik von Beethoven, die Neunte Symphonie. Die mochte ich besonders.
Ich zog meinen Mantel aus und hängte ihn über den Garderobenständer. Meine Schuhe stellte ich unter die Heizung und schlüpfte in die Filzpantoffeln, die dort für mich bereitstanden. Dabei fielen mir Charlies Hauspantoffeln ein …
„Neve?“, hörte ich meinen Namen. Mein Herz machte einen Sprung.
Janus befand sich in der kleinen Nische mit seinen Lieblingsbüchern. Langsam ging ich auf ihn zu. Ich umarmte ihn und … er ließ mich wieder los.
„Oh, bringst du eine Kälte von draußen mit. Ich mache uns erst mal einen Tee.“
„Okay“, sagte ich. Beim Begrüßungskuss hatte ich also schon mal versagt.
Janus ging in die Küche und setzte Wasser auf. Ich machte es mir auf der Couch am Kamin bequem. Kurze Zeit später brachte er zwei dampfende Tassen Tee und setzte sich zu mir.
„Wie war es am Wetterplatz?“, fragte er.
Ich erzählte ihm von dem Besuch bei Charlie und Tom.
„Ach, ich kann es gar nicht erwarten, das arme alte Haus in neuem Glanz erstrahlen zu sehen“, schwärmte Janus, als ich meinen Bericht beendet hatte.
„Ich auch nicht.“
„Und Charlie ist bei Tom eingezogen?“
„Ja, sie hat dort sogar schon Hausschuhe.“
Janus schaute auf meine Filzpantoffeln und ich kicherte verlegen.
Ein Weilchen saßen wir schweigend nebeneinander und beobachteten die Flammen im Kamin.
Jetzt!
Jetzt sich einfach zu Janus hinwenden und ihm so einen zarten und entspannten Kuss geben, wie Tom und Charlie ihn sich gegeben hatten.
Ich drehte mich zu ihm … und beugte mich ins Leere, weil er plötzlich aufstand und mich an der Hand nahm.
„Komm, ich möchte es dir endlich zeigen. Inzwischen müsste es ja funktionieren. “
„Was?“
Er führte mich zu dem Regal mit seinen Lieblingsbüchern, nahm eins mit dunkelrotem Einband heraus und legte meine Hand darauf.
„Fühlst du es?“
Meine Finger bewegten sich auf dem Einband. „Ja. Es ist warm, als hätte es auf einer Heizung gelegen.“
„Und jetzt das.“ Er hielt mir ein anderes Buch hin.
„Das fühlt sich eisig an. Als würde man in ein Tiefkühlfach fassen.“ Meine Hand zuckte zurück.
„Es spielt in der Arktis.“
Er gab mir weitere Bücher. Ich betastete den Einband, oder auch die einzelnen Seiten. Sie fühlten sich entweder warm oder ganz kalt, samtig, piksig, rau, hart oder weich an, je nachdem, um was für eine Geschichte es sich handelte. Die Temperatur des Einbands spiegelte den Gesamtcharakter der Geschichte wider, ob es eine lustige, traurige oder abenteuerliche Geschichte war. Innen drin lösten dann auch die Seiten ein unterschiedliches Empfinden aus, je nachdem, worum es auf ihnen gerade ging.
„Das ist großartig. Ist das eine besondere Fähigkeit von dir?“
„So ist es.“
„Aber wie erklärst du das deinen Kunden?“
„Gar nicht. Es gibt besondere Kunden, denen muss man nichts erklären. Sie lieben bestimmte Bücher so, dass es ihnen ganz normal vorkommt, Sturm, Liebe, Feuer oder Eis auf den Seiten zu fühlen.“
Janus nahm mir das Buch ab, das ich gerade in der Hand hielt, legte seine Hand darauf und schloss die Augen.
„So ist es noch intensiver.“
Ich betrachtete ihn, wie er ganz in seine Empfindungen vertieft vor mir stand. Mein Herz begann zu wummern wie ein Bass.
Entschlossen trat ich auf ihn zu, stellte mich auf die Zehenspitzen, betrachtete seinen Mund
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