Schattenmelodie
überhaupt um diesen Gefallen gebeten zu haben.
„Du weißt, dass das deine Aufgabe ist, Neve“, sagte sie schließlich.
„Ja, aber …“
„Dann solltest du sie nach bestem Gewissen erledigen.“
„Ja … ich weiß. Aber …“
Wir standen immer noch auf der Terrasse und Kims Blick ließ mich nicht los.
„Würdest du wirklich glauben, dass du Grete nicht begleiten kannst, wärst du viel früher zu mir gekommen.“
Oh je, das stimmte natürlich. Ich schluckte und sah unwillkürlich zu Boden.
„Du warst drauf und dran, einen deiner Schützlinge im Stich zu lassen“, fuhr sie fort und schwieg daraufhin einen Moment, damit ich die Botschaft auch mit Sicherheit verstand.
Was sie dann sagte, zeigte, dass sie mich durchschaut hatte. Am liebsten wäre ich vor Scham im Boden versunken.
„Ich werde dich nicht fragen, was der wahre Grund ist.“
„Ich …“
Sie unterbrach mich: „Handle weiter nach deinem Gefühl, Neve. Dann wird alles gut laufen. Du bist doch eine, die das am besten kann.“
„Aber die Reise durch den Durchgang …“
„Ruh dich zwei Tage aus. Das wird genügen. So, wie du mir von Grete berichtet hast, ist noch Zeit.“
„Okay …“
„Und wenn es wirklich aus dem Ruder läuft, versäume es nicht, dir rechtzeitig Hilfe zu holen.“
Kim klang jetzt sehr sanft. Sie machte mir keinerlei Vorwürfe, dass ich versucht hatte, die Tatsachen ein wenig zu verdrehen.
„Natürlich.“ Ich traute mich immer noch nicht, sie wieder anzusehen. „Danke“, flüsterte ich.
Ich verstand wieder, warum sie im Rat war. Sie war sehr distanziert, machte wenige Worte. Aber die Worte, die sie aussprach, sagten alles, was man wissen musste. Sie war eine eiserne Lady im Dienste der Wahrheit. Und wenn sie die Wahrheit herausgefunden hatte, verstand sie es, sie mit Weisheit zu verbinden. Vielleicht besaß sie ja doch keine Abneigung gegen mich.
Kim nahm die Blumen wieder auf, wünschte „Einen schönen Abend noch“ und wandte sich zur Eingangstür ihres Hauses.
„Dir auch“, sagte ich und begab mich auf den Rückweg.
Kims Haus lag ungefähr zehn Minuten von meinem entfernt. Ich schlug den inneren Waldweg ein, der rund um die Lichtung bis zu meinem Turmhaus führte.
Die ganze Zeit drehten sich meine Gedanken um die Frage, wie ich Grete am besten in die magische Welt begleiten konnte. Nein, ich konnte sie nicht im Stich lassen. Aber ich wollte auch nicht noch einmal zurück in die Realwelt. Wie sollte ich das nur anstellen? Vielleicht durch ihre Träume?
Genau, das war doch die beste Lösung. Ich musste herausfinden, um welche Zeit sie in der Nacht am meisten träumte. Ich würde nur als Geist am Wetterplatz 8 auftauchen. Niemand würde mich bemerken. Über Gretes Träume konnte ich erfahren, wann sie den Durchgang aufsuchen musste. Und dann würde ich da sein, und ihr beim Sprung in die Tiefe über ihre Höhenangst hinweghelfen. Danach konnte ich der realen Welt immer noch den Rücken kehren.
Ein seltsames Geräusch riss mich aus meinen Überlegungen. Es hörte sich an wie ein fernes Gewittergrummeln. Besorgt blieb ich stehen und lauschte. Dann erkannte ich, dass das Grummeln von meinem Magen ausging, und war erleichtert. Ha, mein Magen! Nein, ich würde nicht auf ihn hören.
Am Anfang war es schwer, nichts zu essen. Aber ich erinnerte mich, dass ich damals nach zwei Tagen das Essen ganz vergessen hatte. Ich entspannte mich ein wenig und lief weiter, um sogleich erneut zu erschrecken.
Es knackte im Unterholz. Plötzlich flitzte etwas Kleines, Flinkes, Dunkles durch meine Beine. Ich stolperte vor Schreck und hielt mich an einem Baumstamm fest. Fauchend sprang ein größeres Tier dem kleinen hinterher, packte es am Genick und schleifte es in das Gebüsch neben mir. Ich schlug mir die Hand gegen die Brust, weil mein Herz wie wild zu hämmern begann. Wahrscheinlich kam diese ungewohnte Ängstlichkeit vom Schlagen meines Herzens. Und das war völlig überflüssig. Es war nur eine Katze gewesen, die eins ihrer ausgebüchsten Jungen eingesammelt hatte. Ein etwas zottiges rotes Wesen mit nur einem tiefgrün glitzernden Auge. Das zweite schien vernarbt, wahrscheinlich von einem Revierkampf.
Gleich dachte ich wieder an das Haus am Wetterplatz und dass es dort ein ähnliches Tier gab. Ich schüttelte den Kopf. Wenn einen Dinge besonders beschäftigten, schien die ganze Umwelt einen dauernd daran erinnern zu wollen.
Ich bemerkte, dass die Bäume hier ungewöhnlich dicht standen. Der Weg sah anders
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