Schattenmelodie
wenig.
„Jedenfalls, dieser Durst, er machte mich verrückt“, fuhr er fort. „Er wurde immer schlimmer, bis ich das Gefühl hatte, ich könnte ihn überhaupt nicht mehr stillen. Ich wollte ja rücksichtsvoll sein, ich musste doch nur noch ein paar Wochen durchhalten.“
„Wo wolltest du denn hin mit achtzehn?“
„Ich hatte schon ein Zimmer in einem Studentenheim gemietet und betete täglich, dass alles mit meinem Studienplatz klappte. Die letzten Abiturprüfungen lagen hinter mir. Alles war gut gelaufen. Und dann, eines Abends drehte ich einfach die Musik auf, als könnte ich damit den Durst übertönen. Mein Vater flippte natürlich aus und brüllte über den Flur nach Ruhe. Maria war entsetzt über mein Verhalten und schraubte die Hauptsicherung heraus. Augenblicklich legte sich Stille und Dunkelheit über das Haus. Ich hatte natürlich ein furchtbar schlechtes Gewissen, aber gleichzeitig wollte ich auch raus aus meiner Haut. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie brannte und juckte überall und fühlte sich heiß und trocken an. Ich zündete eine Kerze an und kratzte mich am ganzen Körper wie ein Irrer. Maria stand mit der Taschenlampe in der Tür und beobachtete mich. Dann sagte sie: ‚Janus, es kann nur die Zuckerkrankheit sein.‘ Sie bestand darauf, mich sofort ins Krankenhaus zu bringen.“
„Und der Arzt hat nichts gefunden“, spekulierte ich.
„Ja, hat er nicht. Natürlich nicht. Er sagte, es sei meine überspannte Phantasie, gepaart mit der chronischen Unterdrückung meines Temperaments. Und er hat mir die Telefonnummer von einem Psychologen gegeben.“
„Immerhin. Die meisten Ärzte in Krankenhäusern scheren sich sonst nicht um die Seele ihrer Patienten.“
„Das stimmt. Aber leider kann in so einem Fall ein Psychologe auch nicht helfen.“
„Das ist wohl wahr.“
Wir lächelten uns wissend an.
„Danach wurde es erst richtig schlimm. Ich merkte, dass Alkohol den Durst vorübergehend linderte, viel besser als Wasser. Nach einem Bier dachte ich endlich mal eine Stunde lag nicht ans Trinken. Nach einer Flasche Wein war sogar zwei bis drei Stunden Ruhe. Oh Mann, und davor hatte ich nie einen Tropfen angerührt, weil mir das Zeug einfach nicht schmeckte.“
„Du warst also ständig betrunken.“
„Genau, und nicht nur das. Der Alkohol und mein Zustand überhaupt – er hat mich aggressiv gemacht. Ein falsches Wort von Maria und ich flippte aus. Ich hatte mich überhaupt nicht mehr im Griff. Ich habe Türen geknallt, Sachen durch die Gegend geworfen. Ich habe gesagt, dass mein Vater doch verrecken solle, damit andere endlich leben könnten. Ich habe das natürlich nicht so gemeint. Niemals.“
Janus schwieg. Sein Atem ging schnell.
„Ich war ein schlechter Mensch zu der Zeit. Ein wirklich schlechter Mensch.“
„Das warst du nicht.“
„Doch, war ich. Er ist kurz nach meinem Verschwinden in die magische Welt an einem zweiten Schlaganfall gestorben, weißt du.“
„Oh … das ist schrecklich. Aber es war nicht deine Schuld. Es wäre mit großer Sicherheit auch passiert, wenn alles anders gelaufen wäre.“
Janus seufzte. „Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Ich hatte meinem Vater aus der magischen Welt eine Mail geschrieben. Dass jetzt alles in Ordnung ist mit mir. Dass es mir gut geht. Dass ich nun in dem Buch seiner Vorfahren leben würde. Er solle mir einfach glauben, so wie er meinen wilden Geschichten als Kind geglaubt hatte – ja, meine kindliche Fantasie hatte er früher immer ernst genommen. Er solle einfach noch mal das Märchen mit den Feuerdämonen lesen und dann wisse er Bescheid.“
„Er hat dir bestimmt geglaubt. Ich meine, jemand wie er, der mythische Geschichten selbst so sehr geliebt hat …“
„Nein, leider nicht. Maria beantwortete die Mail. Ich hatte sie einen Tag zu spät geschrieben, einen Tag nach seinem Tod. Ich hatte zu lange mit mir gerungen, ihm überhaupt zu schreiben.“
„Das … Das tut mir leid.“
„Mir auch … und wie …!“
Am liebsten hätte ich Janus jetzt umarmt. Aber das traute ich mich nicht.
„Er wird es trotzdem wissen. Bestimmt“, versuchte ich ihn zu trösten.
„Vielleicht …“
Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her. Ich wusste nicht, ob der Weg diesmal länger oder kürzer war. Ich hatte das Gefühl für die Zeit verloren.
„Jedenfalls“, fuhr Janus fort, „dann endlich … begannen die Träume. Ich träumte immerzu vom Danziger Hafen. Ich fuhr mit einem der alten Segelschiffe dorthin,
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