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Schattenmenagerie

Schattenmenagerie

Titel: Schattenmenagerie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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beiden Eutiner schienen
sich hier gut auszukennen. Sie traten ein. Weil die sperrigen Holzläden geschlossen
waren, herrschte eine dunkle, mystische Atmosphäre in der Konzertscheune. Von draußen
drang nur spärliches Licht hinein. Die alten Deckenstützen und Fachwerkbalken warfen
zarte Schatten auf den Parkettboden. Ein paar Sonnenstrahlen, die durch die geschlossenen
Fensterläden drangen, funkelten sternförmig, als seien sie Boten einer anderen,
Lichtjahre entfernten Welt.
    Noël öffnete den Deckel des nagelneuen
Flügels und brachte die Deckelstütze in Konzertstellung. Ein Blüthner der obersten
Kategorie. Graf Stolberg hatte ihn gestiftet. Danach kramte der Junge eine Kerze
hervor, die er bei der Trauerfeier in der Schlosskapelle mitgenommen hatte, und
stellte sie auf das Notenpult. »Wartet noch einen Augenblick, ich muss nur mal zur
Toilette. Vorher darfst du keinen Ton spielen!«
    Viviana nutzte die Gelegenheit seiner
Abwesenheit, um Micha zu fragen: »Du, sag mal: Wie sieht er eigentlich aus, der
Noël? – Ich meine, ist er … attraktiv? – Er riecht gut und er spricht auch sehr
lieb. Aber, – weißt du, ich kann ihn ja nicht sehen, und die anderen wollte ich
nicht fragen. – Ich glaube, er ist in mich verknallt, – und er gefällt mir auch
ganz gut. – Ich würde gern wissen, wie er aussieht. – Du bist neutral, du könntest
mir das sagen.«
    Micha spürte
ein warmes Gefühl in der Magengegend. Sie freute sich insgeheim, dass Viviana ihr
Vertrauen schenkte, obwohl sie sich der Blinden gegenüber nicht immer gerade höflich
verhalten hatte.
    »Na ja, was
soll ich sagen. – Er sieht gut aus. Ist etwas kleiner als du, hat pechschwarze Haare,
so wild wie deine, und eine lustige Stupsnase. Er macht immer so ein trauriges Gesicht.
Aber das steht ihm. Das macht ihn irgendwie männlicher. – Also, wenn er nicht schon
an dich vergeben wäre, würde ich ihn glatt nehmen. Mir ist er nur etwas zu schweigsam.
– Er schaut dich immer so sehnsüchtig an. Man sieht es ihm deutlich an, dass er
in dich verliebt ist.«
    Viviana errötete.
»Meinst du? – Ach was. Was kann ein Junge schon mit einem blinden Mädchen anfangen?
Sicherlich hat er auch nur Mitleid, so wie alle. – Weißt du, das nervt mich. Alle
haben immer nur Mitleid, keiner liebt mich als Mensch, als Frau, als Musikerin,
wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Nun werd aber
nicht komisch! Das bildest du dir nur ein. Bleib einfach so, wie du bist. Gehe deinen
eigenen Weg, so wie du es willst. Und das mit der Liebe wird sich schon finden.«
    Viviana tastete sich zum Klavierhocker,
setzte sich und streichelte die Tastatur sanft mit ihren langen, schmalen Fingern.
Micha beneidete sie um ihre zarten Hände.
    »Diesen neuen Flügel habe ich noch
nie gespielt. – Ich möchte warten, bis Noël wieder da ist. – Aber ihm gegenüber
kein Wort von eben!«
    »Ehrenwort unter Frauen!«
    Als Noël wieder zurückkam, zündete
er die Kerze an und setzte sich neben Micha in die erste Stuhlreihe. Der Kerzenschein
betonte die geheimnisvolle Stimmung im Raum.
    »Also, los geht’s.«
    Viviana schraubte den Klavierhocker
auf die richtige Höhe, während sie erklärte:
    »Ich möchte mit dem beginnen, was
ich vorhin auf der Orgel gespielt habe. Es ist der langsame Satz aus der Sonate
Nummer vier von Carl Maria von Weber. Eigentlich gehört so eine Musik nicht auf
die Orgel, aber ich fand, dass die Stimmung gut zu der Gedenkfeier für den Grafen
Stolberg passte. Ich bin gespannt, wie sie auf dem neuen Flügel klingt. – Und –
ich möchte sie dir widmen, Noël, weil du dich immer so nett um mich sorgst.«
    Noël war froh, dass es zu dunkel
war, um zu sehen, wie er errötete.
    Micha schloss die Augen. Das hatte
sie vorhin versprochen. Sie hatte ganz vergessen, dass Viviana das gar nicht kontrollieren
konnte. Noël lehnte sich zurück und verschränkte genießerisch seine Arme. Es schien,
als sei er mehr an der Pianistin als an der Musik interessiert.
     
    *
     
    Viviana legte ihre Finger auf die Tasten. Ihre Fingerkuppen berührten
kaum die Elfenbeinplättchen. Die weiche C-Dur-Kadenz, mit der der Satz begann, umschmeichelte
die Kerze mit ihrem tröstenden Klang. So, wie es der Komponist vorgeschrieben hatte:
Andante consolante. Die Flamme vibrierte ganz leicht, als fühlte sie sich durch
die Musik in ihrer Seele angestoßen.
    Viviana spürte gleich mit den ersten
Tönen ein tiefes Vertrauen in den wunderschönen Flügel. Bei der zweiten Phase der
schlichten

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