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Schattenmenagerie

Schattenmenagerie

Titel: Schattenmenagerie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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Melodie vergaß sie ganz die mühsam eingepaukten Braillezeichen. Es war,
als käme die Musik aus ihrem Inneren heraus. Sie gab sich ihr bedingungslos hin.
Sie spielte nicht die Musik, sie erträumte sie.
    Nach und nach schlichen sich die
zarten Klänge durch den Raum und füllten die Herzen der beiden Zuhörer. Vergessen
war der Alltag, der Ärger mit dem Schlossverwalter, die Suche nach dem Mörder. Micha
vergaß sogar, dass sie eigentlich Schlossprinzessin sein wollte.
    Nach der Wiederholung
des Themas löste sich die Melodie in einen filigranen Mittelteil auf. Aus dem ursprünglichen
dolce piano entwickelten sich kraftvolle, aber nicht aufdringliche Fortissimoklänge.
Jetzt wiegte sich die Kerzenflamme im Takt der sonoren Musik. Und so animierte ihr
Schattenwurf die Jahrhunderte alten Holzbalken zu wiegendem Tanz.
    Viviana verschmolz mit der Musik.
Ihren Körper hatte sie vergessen. Ihr war, als würde sie die Musik leben, als würde
sie nichts als Musik sein, als hätte sie ihren Körper beiseite gelegt.
    Sie hob intuitiv den Kopf. Ein warmer
Schleier legte sich über ihre Augen. Der Widerhall eines vagen Urlichts erhellte
ihr Bewusstsein. Sie fühlte, dass sie plötzlich sehen konnte, wenn auch nur schemenhaft.
     
     
    Die Flamme.
    Eine Kerze.
    Holzträger im Raum.
    Fensterläden, durch
deren Ritzen sich Sonnenstrahlen kämpfen.
    Wie das Funkeln ferner
Sterne.
    Umrisse von Menschen.
     
    Je mehr sie die Musik beflügelte, desto deutlicher konnte sie sehen.
Die Klangfarben verwandelten sich vor ihren Augen in wirkliche Farben. In der nun
folgenden ersten Variation des Themas schärften sich Konturen. Kräftige akkordische
Gegenbewegungen lösten sich mit perlenden Läufen ab. Behutsam lichtete sich der
Nebel vor Vivianas Augen, ganz langsam, als wolle er sie nicht erschrecken.
    Sie ahnte neben sich eine fremde
Gestalt. Undeutlich erkannte sie einen ernst dreinblickenden Mann.
     
    Schmales Gesicht.
    Auffällig schlanke lange
Nase.
    Gekräuselte schwarze
Locken über den Ohren.
    Dünne Strichlippen,
spitzes Kinn.
    Tief heruntergezogene
Augenlider.
    Kühler, fast herablassender
Blick.
     
    Der Variationssatz mündete in einen sehnsuchtsvollen Teil, grazioso,
cantabile, dolce. Das Kerzenlicht spiegelte sich in der gefühlvollen Musik. Vivianas
unerfahrene Augen weiteten sich. Jetzt konnte sie die beiden Gefährten in der ersten
Sitzreihe erkennen.
     
    Noël.
    Für dich spiele ich.
    Stupsnase.
    Wie Micha gesagt hatte.
    Das traurige Gesicht.
    Ich tröste dich mit
meiner Musik.
     
    Viviana fühlte sich, als lebe sie in einer anderen
Welt. Die Musik war nicht mehr Klang. Sie war Leben. Ein neues Leben. Mit ihrer
Musik hatte sie eine höhere Realität geschaffen. Das war mehr als nur ein Traum.
    Die zweite Variation
des Themas verwandelte den Klang in ein imaginäres Zwiegespräch, marcato. Viviana
spürte ihre Finger nicht mehr. Wie selbstverständlich huschten sie über die Tasten,
als spotteten sie dem technischen Schwierigkeitsgrad.
    Viviana hörte
den Mann neben sich seufzen.
     
    »Wunderbar. – - – Du
hast mich gerufen?«
     
    Sie schaute mit fragendem Blick zu ihm hoch. Immer noch ungläubig,
dass sie jetzt plötzlich die Fähigkeit besaß zu sehen.
     
    »Mit deiner Musik hast du mich gerufen. – Ich heiße
Carl Maria. Ich habe diese Musik komponiert. – Noch nie hörte ich sie so wunderbar
wie heute. Du weißt, das ich ihr die Überschrift ›Andante, quasi Allegretto, consolante‹
gab. Aber die Pianisten machten seit jeher aus dem Andante einen Trauermarsch, oder
aber sie spielten es zu schnell, wie ein Allegro. Als wollten sie mit ihrer leeren
Virtuosität prahlen. Egal wie, alle haben es nicht vermocht, den Klang consolante,
tröstend und auch tröstlich, zu gestalten. – Du bist die Erste, die meine Musik
so wiedergibt, wie ich sie mir beim Komponieren vorgestellt hatte. – Dafür danke
ich dir.«
     
    Carl Maria machte eine längere Pause. Viviana spielte ohne ein Wort
zu erwidern weiter. Dann holte er aus seinem weiten Mantel, der mit einem teuren
Pelzkragen belegt war, einen Stoß Noten hervor. Er legte das sorgfältig zu einem
Stapel gebündelte Päckchen auf das Notenpult des Flügels.
     
    »Ich möchte dir etwas widmen. – Und nur du darfst
es spielen! – Du weißt sicherlich, dass ich hier in Eutin geboren wurde, das ich
viel zu jung verlassen musste. Aber wahrscheinlich weißt du nicht, dass ich mich
Zeit meines Lebens nach meiner frühen Kindheit zurücksehnte. Ich liebe diese

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