Schattenmenagerie
Fachzeitschriften oder Bücher über die Zarengeschichte, die sie
im Internet bestellt hatte.
An ihrem Arbeitsplatz galt sie als
gute und bequeme Vorgesetzte, weil ihr Interesse mehr den verstaubten Akten in den
Regalen als der Leitung des Archivs galt. Sie kleidete sich betont unauffällig,
vielleicht um die gediegene Aura der alten Dokumente nicht zu stören. Schürze, Plastikhandschuhe
und eine antiseptische Kopfhaube gehörten neben Lupe, Lesebrille und Notebook zu
ihrer Berufsausrüstung.
Gelegentlich lud man sie zu Vorträgen
an Hochschulen des In- und Auslands ein, wo sie mit einer Handvoll Kollegen in Ruhe
fachsimpeln konnte. Große, öffentliche Aufmerksamkeit hatte das nie erregt, da die
Zeit der russischen Zarengeschichte abgeschlossen zu sein schien. Neue, aufregende
Erkenntnisse waren nach der Klärung des Schwindels um eine gewisse Anna Anderson
nicht mehr zu erwarten, – der falschen Zarentochter Anastasia, die behauptete, der
Erschießung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Jahre 1918 entkommen zu sein.
So verlief das Leben der Frau Doktor Gisella Gaiger in ruhigen Bahnen, und es sah
so aus, als ob sich daran nie etwas ändern würde.
Heute hatte sie sich einen freien
Tag genommen und schlenderte durch die frühlingsbelebten Gassen ihrer Stadt. Zuerst
stand die wöchentliche Rückengymnastik auf ihrem Tagesplan, bevor sie den geheimnisvollen
Auftrag, den sie vor ein paar Wochen erhalten hatte, zum Abschluss bringen wollte.
Danach winkte ein entspannender Besuch in Niedereggers Café auf dem Rathausmarkt.
Während sie sich den lästigen Trainingsgeräten
der Rückenschule unterzog, fand sie genügend Zeit, um sich den Auftrag nochmals
genau durch den Kopf gehen zu lassen.
Vor einiger Zeit meldete sich ein
anonymer Gast auf der Internetseite ihres Instituts. Er interessierte sich für ein
spezielles Detail aus dem Leben des Zaren Peter III. und hoffte, in ihr eine kompetente
Sachbearbeiterin zu finden. Frau Doktor Gisella Gaiger reizte die Anfrage. An einigen
Details erkannte sie sofort, dass der Unbekannte ein guter Kenner der Zarenfamilie
sein musste.
Die Archivarin hatte sich mit dem
Unbekannten, der vorgab, aus familiären Rücksichten anonym bleiben zu müssen, im
Domcafé getroffen. Er zeigte ihr vergilbte Dokumente, von deren Existenz sie noch
keine Kenntnis hatte. – Materialien, die bislang noch nie veröffentlicht wurden.
Sofort erwachte ihr wissenschaftlicher Ehrgeiz.
Sie erhielt den Auftrag, und als
Gegenleistung versprach er, ihrem Institut einen beachtlichen Geldbetrag zu stiften,
der dazu verwendet werden sollte, die Beziehungen zwischen Russland und Lübeck zu
erforschen.
Gisella gelang es, im schwedischen
Staatsarchiv und im Schleswig-Holsteinischen Landesarchiv, in dem auch das Familienarchiv
der Herzöge von Altenburg verwahrt wurde, ein paar interessante Details herauszufinden.
Sie hatte einen schmalen Aktenordner zusammengestellt, den sie heute dem Unbekannten
in einer Villa am Mühlenteich übergeben sollte.
Die Rückengymnastik tat ihr gut.
Sie wusste, dass sie zu viel am Schreibtisch saß. Sie nahm sich vor, in Zukunft
jeden Tag in der Mittagspause eine Runde durch die Wallanlagen zu drehen.
Die bewusste Villa lag in bester
Lage, mit einem direkten Gartenzugang zum Mühlenteich. An der Pforte der Straßenseite
fand Gisella kein Namensschild, aber alles deutete darauf hin, dass hier wohlsituierte
Leute wohnten. Sie wusste, dass die Gründerzeitvilla früher einmal zu den Kapitelhäusern
der Domherren zählte. Doch die heutigen Besitzer kannte sie nicht.
Ein schmaler,
mit wertvollem Zierkies aus Laaser Marmor gedeckter Weg führte sie zu dem prächtig
ausladenden Eingangsportal. Auch hier nur ein Klingelknopf, kein Name. Sie betätigte
ihn. Nach geraumer Zeit öffnete ihr der namenlose Auftraggeber. Mit ausgesuchter
Höflichkeit bat er sie in den Empfangssalon. Sie schienen allein zu sein.
Eigentlich merkwürdig,
angesichts dieser Villa hätte ich einen Kammerdiener erwartet, dachte sie. Die Räume
waren elegant und teuer eingerichtet, aber mit sicherem weiblichen Instinkt spürte
sie, dass das Haus kein wirkliches Heim war. Gerade die perfekte Ordnung und das
Fehlen von persönlichen Bildern überzeugten sie, dass die Villa wohl nur als vorübergehende
Stadtwohnung genutzt wurde. Ihr Gastgeber bat sie, in einem der neubarocken Sessel
Platz zu nehmen, und setzte sich ihr gegenüber.
»Ich bin über
Ihren Besuch hocherfreut. Es ist mir eine Ehre, eine so
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