Schattenmenagerie
Landschaft,
die Wälder, die Sagen, die Menschen. – Ihnen huldigte ich nicht nur in meiner bekanntesten
Oper, dem Freischütz. Du sollst wissen, dass ich schon eines meiner ersten Jugendwerke
diesem Land widmete, die damals recht erfolglose Oper ›Das stumme Waldmädchen‹.
Zu Recht erfolglos, war das Libretto doch mehr als kümmerlich. Später, als mir klar
wurde, dass die Thematik keiner Worte bedurfte, schrieb ich die Musik in eine Klaviersuite
um. Hier ist sie: Die Wolfsschlucht-Suite. – Sie ist aber unvollendet geblieben.
Es ist nur eine Motivsammlung.«
Carl Maria zögerte, als müsse er einen eigentlich schon längst gefassten
Beschluss erneut überdenken. Er musterte die Pianistin. Wäre sie die Richtige? Er
bemerkte, dass es ein dünner Lichtstrahl geschafft hatte, durch die schmalen Ritzen
der Fensterläden direkt auf ihre schmalen, zierlichen Hände zu scheinen. Der Fremde
trat hinter sie und legte die seinigen auf ihre Schulter.
»Weißt du, ich war noch zweimal in meinem Geburtsort.
Als junger Mann und später als gefeierter Komponist. – Ich hatte hier eine wundervolle
Zeit, aber ehrlich, ich traf niemanden, der wirklich etwas von Musik verstand. –
Viel später hatte ein gewisser Mussorgskij mit seinen ›Bildern einer Ausstellung‹
etwas Ähnliches probiert. Aber das gefällt mir nicht. Das war wahrscheinlich von
meiner Vorlage geklaut. Wer weiß, – die Russen hatten schon immer einen guten Draht
nach Eutin. Meine unvollendete Komposition wurde nie veröffentlicht, sie lag aber
die ganze Zeit hier im Eutiner Schloss. – Du sollst die Erste sein, die dieser Musik
Leben einhaucht. – Und ich weiß, dass nur du das kannst. Nur du bist ihrer würdig.
Nur du bist dazu auserwählt, meine Musik zu Ende zu bringen.«
Die Schlussakkorde legten sich besänftigend über den Raum. Viviana
streichelte ein letztes Mal die Tastatur. Dann zog sie behutsam ihre Hände zurück
und faltete sie auf ihrem Schoß.
Minutenlang herrschte tiefes Schweigen,
als wäre es Bestandteil der Musik.
Viviana schloss behutsam den Tastaturdeckel.
Die Gestalt verschwand. – Dafür
lag ein Bündel Noten auf dem Flügel.
Oder lag es dort schon von Anfang
an, – nur dass Micha und Noël es nicht bemerkt hatten?
*
Die Klingelmelodie von Michas Handy durchbrach brutal die Stille. ›When
love takes over‹ von David Guetta. In der Schule war Micha noch stolz auf den Klang.
Jetzt spürte sie, dass er nicht in diesen Raum passte, und schämte sich vor Viviana.
Ihr Onkel. Er wollte wissen, wo
sie bliebe. Er wartete schon eine Viertelstunde und wurde ungeduldig, weil er im
Büro noch so viel zu erledigen hatte.
»Ich bin in einer Konzertscheune.
Hol mich doch einfach ab.« Micha erkundigte sich bei Noël nach dem Weg. »Die liegt
an der Landstraße nach Schönwalde, am Ende vom Schlossgarten. Sieht aus wie ein
Bauhof. Du kannst das gar nicht verfehlen, auch wenn du mein Handy-GPS nicht dabei
hast. – Bis gleich.«
Viviana hatte noch eine Bitte. Sie
drückte Micha das Bündel Noten in die Hand.
»Würdest du so lieb sein, das hier
beim Leiter der Musik- und Kunstschule in Lübeck in der Kanalstraße abzugeben. Der
Kai, einer der Klavierlehrer dort, soll daraus eine Midi-Datei machen. Die wissen
schon Bescheid, wenn du meinen Namen nennst. Ich werd dich in ein paar Tagen anrufen.
Vielleicht können wir uns ja mal treffen. – Und das mit der Verbrecherjagd: Sag
deinem Onkel, wir helfen ihm. Schließlich mochten wir den Stolberg gern und sind
auch daran interessiert, dass der Mörder gefasst wird.«
Micha freute sich riesig über das
Vertrauen, dass das blinde Mädchen ihr entgegenbrachte.
Kapitel 8: Lübecker Rotspon
Frau Doktor Gisella Gaiger galt als Expertin der russischen Zarengeschichte.
Sie hatte über Zar Peter III. und seine falschen Doppelgänger promoviert. Das war
nicht gerade eine Thematik, die sie für eine wissenschaftliche Karriere an einer
Topuniversität prädestinierte. So landete sie zwar nicht spektakulär, aber rundum
zufrieden als leitende Archivarin im Lübecker Stadtarchiv.
Unverheiratet ins beste Alter gekommen,
führte sie ein zurückgezogenes, bescheidenes Leben in einer der kleinen verträumten
Quergassen der Lübecker Altstadt. Besuch bekam sie höchst selten. Ihr Hauptkontakt
zur Außenwelt war – abgesehen von ihrer Dienststelle, die sich genau gegenüber dem
Lübecker Dom befand – das Internet. Nur der Postbote klingelte regelmäßig an ihrer
Tür. Er brachte
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