Schattenmenagerie
angesehene Kennerin der
russischen Zarengeschichte in meinem bescheidenen Haus begrüßen zu dürfen.«
Der Mann zog
einen Beistellwagen zu sich heran und stellte zwei im Licht der von Süden hereinscheinenden
Mittagssonne funkelnde Kristallgläser auf den zierlichen Tisch, der beide Sessel
trennte.
»Darf ich gleich
mit der Tür ins Haus fallen? – Entschuldigen Sie, aber ich bin ja so gespannt auf
die Ergebnisse Ihrer Arbeit. – Was haben Sie herausgefunden?«
Gisella legte
den Aktenordner auf den Tisch und begann in umständlich wissenschaftlichem Ton dessen
Inhalt wiederzugeben. Sie fand in ihrem Gegenüber einen aufmerksamen Zuhörer, der
sie gelegentlich mit Zwischenfragen unterbrach, die von seiner profunden Kenntnis
der Materie zeugten.
Draußen auf
der sonnenbeschienenen Gartenterrasse stolzierte eine Elster auf der Suche nach
Beute. Gisella mochte diese Vögel nicht, seitdem sie einmal beobachten musste, wie
sich eine Elster auf eine hilflose Jungamsel stürzte und sie zerfleischte. Schließlich
kam sie auf den Punkt.
»Nach alldem habe ich eine positive
Nachricht für Sie. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann ich davon ausgehen, dass Sie
…«
Ihr Gastgeber unterbrach sie nervös.
»Ach bitte, sprechen Sie nicht weiter. Ich möchte die Details doch lieber nachher
in Ruhe auf mich wirken lassen.«
Seine Gesichtszüge hellten sich
sichtbar auf. Gisella spürte einen Anflug von Stolz in seinen Augen. Als wolle er
von seiner etwas unkontrollierten Reaktion ablenken, fuhr er fort:
»Oh, bitte entschuldigen Sie. Ich
habe Ihnen ja noch gar nichts angeboten. Ich war von Ihrem Vortrag so fasziniert,
dass ich die einfachsten Höflichkeitsformen vergaß.«
Er nahm eine bereitstehende Flasche
in die Hand und schenkte ein.
»Lübecker Rotspon,
– vom Feinsten. – Wenn das nicht ein Grund zum Feiern ist. – Ich bin sehr zufrieden
mit Ihrer Arbeit und werde Sie und Ihr Institut gebührend belohnen. – Bitte bedienen
Sie sich.«
Gisella nahm das angebotene Glas
und nippte ein wenig. Ganz versunken in die Darstellung ihrer Forschungsergebnisse
merkte sie nicht, dass ihr Gegenüber zwar sein Glas in der Hand hielt, jedoch keinen
Tropfen zu sich nahm. Er schien das Trinken ganz vergessen zu haben, so gebannt
starrte er auf den Aktenordner der Archivarin.
Ganz in ihren Redefluss vertieft,
leerte die Dozentin inzwischen das zweite Weinglas. Eine schnell einsetzende, bleierne
Müdigkeit lähmte plötzlich ihre Gedanken. Das Letzte, was sich in ihrem Gehirn widerspiegelte,
war der Anblick eines sie teuflisch anstarrenden Gegenübers.
Das Manuskript fiel ihr aus den
Händen. Sie sank in dem Sessel zusammen.
Das war die letzte Körperregung
im Leben der Frau Doktor Gisella Gaiger.
*
Am nächsten Tag fanden Spaziergänger eine bis auf die Schuhe vollständig
bekleidete weibliche Leiche am Ufer des Mühlenteichs. Inspektor Kroll und sein Team
waren sofort vor Ort.
Tod durch Ertrinken beim Baden schlossen
sie aus. Die Frau wäre sonst anders bekleidet gewesen. Unfall ebenfalls. In Ufernähe
gab es keine nennenswerten Untiefen. Auch Suizid hielten sie für unwahrscheinlich.
Dazu suchte man sich normalerweise andere Orte aus, wusste Kroll aus einer Statistik.
Blieb als erste Arbeitshypothese nur Tod durch Fremdeinwirkung. Äußerlich waren
keine Wunden oder Spuren eines Kampfes zu erkennen. Nur eine Obduktion konnte Weiteres
klären.
Eine erste Untersuchung der öffentlich
zugänglichen Uferbefestigungen und rundum liegenden Grünanlagen brachte nichts zum
Vorschein. Keine Handtasche, kein Abschiedsbrief, kein verdächtiges Kleidungsstück.
Polizeitaucher suchten den Teich ab. Außer einem verrosteten Eimer und ein paar
alten Bierdosen fanden sie nichts.
Bevor die Leiche ins Polizeilabor
gebracht wurde, schaute Kroll sie sich genauer an. Die Frau machte einen gepflegten
Eindruck, schien aus geordneten Verhältnissen zu kommen. Keine Dame der vornehmeren
Kreise, dazu waren Kleidung und Schmuck nicht elegant genug.
Persönliche Merkmale, die auf die
Identität der Toten schließen konnten, fand Kroll nicht. Kein eingenähtes Namensschild,
kein gravierter Ehering. Nichts Auffälliges. Als er vorsichtig die Hosentasche der
Frau mit spitzen Fingern durchsuchte, fühlte er etwas Sandiges. Er zog ein paar
Steinsplitter ans Tageslicht.
»Sieht aus wie Kies, – so, wie man
ihn auf den Wegen der Friedhöfe oder in Schlossgärten verwendete. – Eigentlich stecken
sich doch nur Kinder schöne kleine Steinchen in
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