Schattennacht
blickte sie von ihrem Buch auf. »Katzen mag ich auch, aber d-d-die sind nicht wie Hunde.«
»Ganz bestimmt nicht«, sagte ich. »Jedenfalls hab ich noch nie ein Rudel Katzen gesehen, das stark genug war, um einen Hundeschlitten zu ziehen.«
Sie kicherte. Offenbar stellte sie sich einen Schlitten mit Katzengespann vor.
»Und man kriegt eine Katze nie dazu, hinter einem Tennisball herzujagen.«
»Nie im Leben«, stimmte sie mir zu.
»Außerdem riecht Hundeatem nie nach Maus.«
»Bäh! Nach Maus …«
»Sommer, willst du später wirklich mit Hunden arbeiten?«
»Klar. Ich weiß, mit Hunden könnte ich ’ne Menge tun!«
»Dann musst du tapfer weiter zur Reha gehen, damit dein Arm und dein Bein so stark werden, wie es geht.«
»Klar. Unheimlich stark sollen die werden.«
»So ist es richtig.«
»Und ich muss auch das G-g-gehirn trainieren.«
»Hör mal, Sommer, wenn ich von hier weggehe, werde ich dir ab und zu schreiben. Und wenn du erwachsen bist und alleine zurechtkommst, spreche ich mit einem Freund von mir. Der wird dafür sorgen, dass du einen Job bekommst, wo du was ganz Tolles mit Hunden machen kannst, wenn du das dann immer noch willst.«
Sie bekam ganz große Augen. »Etwas Tolles … was denn zum Beispiel?«
»Das kannst du entscheiden. Während du groß und immer stärker wirst, überlegst du dir einfach, was die tollste Arbeit ist, die du mit Hunden machen könntest – und die bekommst du dann auch.«
»Ich hatte mal einen tollen Hund. F-f-farley hieß der. Er hat versucht, mich zu retten, aber Jason hat ihn auch erschossen.«
Sie sprach über die Grausamkeit, die sie erlebt hatte, mit mehr Gleichgültigkeit, als es mir gelungen wäre, aber ich hatte das Gefühl, wenn sie nur noch ein weiteres Wort darüber sagte, würde ich die Fassung verlieren.
»Eines Tages wirst du so viele Hunde haben, wie du willst«, sagte ich. »Stell dir mal vor, was das für ein Fellgetümmel wird.«
Von der Erinnerung an Farley konnte sie nicht gleich zu einem Kichern übergehen, aber sie lächelte. »Ein Fellgetümmel«, sagte sie nachdenklich.
Ich streckte ihr die Hand hin. »Na, abgemacht?«
Einen Moment lang dachte sie ernsthaft nach, dann nickte sie und ergriff meine Hand. »Abgemacht!«
»Jetzt hast du aber hart mit mir verhandelt, Sommer.«
»Ehrlich?«
»Ich bin erschöpft. Du hast mich total zermürbt. Ich bin geschafft. Meine Füße sind müde, meine Hände sind müde, sogar meine Haare sind müde. Deshalb muss ich jetzt gehen und einen langen Mittagsschlaf machen. Vorher muss ich aber dringend erst mal eine große Portion Pudding futtern.«
Sie kicherte. »Pudding?«
»Ja, weil ich so geschafft bin, dass ich nicht mal mehr kauen kann. Meine Zähne sind nämlich auch müde. Eigentlich schlafen sie schon. Deshalb kann ich nur Pudding essen.«
Grinsend sagte sie: »Du bist doof.«
»Das haben auch schon andere über mich gesagt«, vertraute ich ihr an, während ich aufstand.
Weil wir uns an einem Ort beratschlagen mussten, an den wahrscheinlich keine Bodachs kamen, entschied Schwester Angela, sich mit Romanovich und mir in die Apotheke zurückzuziehen. Dort war Schwester Corrine gerade damit beschäftigt, die abends verabreichten Medikamente in kleine Pappbecher zu verteilen, auf die sie die Namen ihrer Patienten geschrieben hatte. Sie war gern bereit, uns eine Weile allein zu lassen.
Als die Tür sich hinter Schwester Corrine geschlossen hatte, sagte die Mutter Oberin: »Also, jetzt aber los! Wer ist Jacobs Vater und wieso ist er so wichtig?«
Romanovich und ich sahen uns an, dann antworteten wir im Chor: »John Heineman.«
»Bruder John?«, fragte die Schwester zweifelnd. »Unser Gönner? Der seinen ganzen Reichtum aufgegeben hat?«
»Sie haben diese ausgeklügelten Skelette noch nicht gesehen, Ma’am«, sagte ich. »Sobald man eines davon zu Gesicht bekommen hat, weiß man eigentlich, dass dafür niemand anders als Bruder John verantwortlich sein kann. Er wünscht seinem Sohn den Tod, und vielleicht wünscht er sich den sogar für alle Kinder hier.«
46
Rodion Romanovich besaß in meinen Augen eine gewisse Glaubwürdigkeit, weil er einen Geheimdienstausweis vorzuzeigen hatte und weil er drollig war. Vielleicht lag es auch daran, dass die Luft in der Apotheke mit den Dämpfen von Beruhigungsmitteln gesättigt war, jedenfalls war ich mit jeder Minute eher bereit, ihm zu vertrauen.
Laut seinen Informationen hatte die Geschichte vor fünfundzwanzig Jahren damit begonnen, dass
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