Schattennacht
dachte die NSA sich zwei einigermaßen plausible Geschichten aus. Den Angehörigen der zwei Erstgenannten wollte man mitteilen, die beiden wären bei einem Unfall mit dem Geländewagen ums Leben gekommen und ihre Überreste sähen so schlimm aus, dass man es nicht verantworten könne, einen Blick in den Sarg zu gestatten.
Eine Totenmesse war für sie schon gehalten worden. Obwohl es keine Leichen gab, die man begraben konnte, sollten im Frühling auf dem Friedhof am Waldrand zwei Grabsteine errichtet
werden. So würden wenigstens ihre in Stein gehauenen Namen bei denen stehen, die sie gekannt und geschätzt hatten und von denen sie geschätzt worden waren.
Die Leiche von John Heineman, für den man ebenfalls eine Messe gelesen hatte, wollte man vorerst in einem Kühlraum lagern. Nach einem Jahr, wenn niemand mehr eine Verbindung zum Tod von Timothy und Maxwell ziehen würde, sollte dann bekannt gegeben werden, er sei an einem schweren Herzinfarkt gestorben.
Er hatte keine Angehörigen außer dem Sohn, den er nie angenommen hatte. Trotz des Schreckens und des Kummers, den Heineman dem Kloster beschert hatte, waren die Brüder und Schwestern sich einig, dass im Geiste der Vergebung auch er auf ihrem Friedhof bestattet werden sollte, allerdings in diskretem Abstand von den anderen, die an diesem Ort ruhten.
Heinemans Anlage aus Supercomputern wurde von der NSA beschlagnahmt. All die seltsamen Räume und die Schöpfungsmaschine sollten studiert, sorgfältig auseinandergenommen, auf Lastwagen verladen und weggeschafft werden.
Die Brüder und Schwestern – und meine Wenigkeit – mussten schriftlich zusagen, striktes Stillschweigen zu bewahren. Man machte uns klar, dass die in der Vereinbarung genauestens aufgelisteten Strafen für jede Übertretung konsequent vollstreckt werden würden. Ich glaube, die Agenten machten sich weniger Sorgen wegen der Mönche und Nonnen, in deren Leben es ohnehin um die Erfüllung von Gelübden ging, als wegen mir. Auf jeden Fall verbrachten sie viel Zeit damit, mir in allen Einzelheiten auszumalen, auf welche Unannehmlichkeiten der Ausdruck »im Gefängnis schmoren« zurückzuführen war.
Ich habe dieses Manuskript trotzdem geschrieben, da Schreiben meine Therapie und eine Art Buße ist. Falls meine Geschichte je veröffentlicht werden sollte, dann erst, wenn ich aus
dieser Welt in die nächste weitergezogen bin, wo selbst die NSA mich nicht mehr beim Kragen packen kann.
Obwohl Abt Bernard keine Verantwortung für John Heinemans Forschungen und Handlungen trug, bestand er darauf, zwischen Weihnachten und Neujahr von seinem Amt zurückzutreten.
Er hatte Johns Klause als Adytum bezeichnet, als etwas wie den innersten Ort der Anbetung, das Allerheiligste eines Tempels. Er hatte sich fälschlich einreden lassen, man könne Gott durch wissenschaftliche Methoden erfahrbar machen, was ihn nicht wenig schmerzte. Am meisten Reue empfand er jedoch, weil er nicht erkannt hatte, dass das, was John Heineman antrieb, kein gesunder Stolz auf sein gottgegebenes Genie gewesen war, sondern Eitelkeit und ein insgeheim schwelender Zorn, der alle seine Leistungen korrumpiert hatte.
Traurigkeit senkte sich über die Gemeinschaft im Kloster, und das würde wohl auch noch mindestens ein Jahr lang so bleiben. Weil die ins Internat eingedrungenen Knochenbestien sich wie die Gestalt des Todes sofort in immer kleiner werdende Würfel aufgelöst hatten, als ihr Schöpfer erschossen worden war, hatte nur Bruder Maxwell die Schlacht nicht überlebt. Um ihn, um Timothy und auch um den armen Constantine würde man jedes Jahr, in dem das Leben ohne sie weiterging, von Neuem trauern.
Am Samstagabend, drei Tage nach der Krise, kam Rodion Romanovich in mein Zimmer im Gästehaus. Er brachte zwei Flaschen guten Rotwein mit, frisches Brot, Käse, kaltes Roastbeef und verschiedene Gewürze. Vergiftet hatte er nichts davon.
Boo verbrachte den Großteil des Abends damit, auf meinen Füßen zu liegen, als fürchtete er, sie könnten kalt werden.
Für eine Weile schaute auch Elvis vorbei. Ich hatte gedacht, er wäre inzwischen weitergezogen, wie es Constantine offenbar getan hatte, doch der King war noch dageblieben. Er machte sich
wohl Sorgen um mich. Außerdem hatte ich den Verdacht, er könnte den Moment seiner Abreise mit demselben Gefühl für Dramatik und Stil wählen, das ihn berühmt gemacht hatte.
Als wir kurz vor Mitternacht an dem kleinen Tisch am Fenster saßen, wo ich einige Tage vorher auf den Schnee
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