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Schattennacht

Schattennacht

Titel: Schattennacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Koontz
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verschiedenen Stärken und Härtegraden.
    Das aktuelle, fast vollendete Projekt war das Porträt einer umwerfend schönen Frau. Im Dreiviertelprofil dargestellt, blickte sie an der linken Schulter des Künstlers vorbei.
    Unweigerlich dachte ich an Quasimodo, den Glöckner von Notre-Dame, an seine tragische Hoffnung und seine unerwiderte Liebe.
    »Du bist sehr begabt«, sagte ich, was stimmte.

    Jacob antwortete nicht.
    Obwohl seine Hände kurz und breit waren, führten die dicken Finger den Bleistift mit Geschick und höchster Präzision.
    »Mein Name ist Odd Thomas.«
    Er zog die Zunge in den Mund zurück, bohrte sie sich in die Wange und presste die Lippen zusammen.
    »Ich wohne gerade im Gästehaus der Abtei.«
    Als ich mich im Zimmer umblickte, sah ich, dass die gut ein Dutzend gerahmten Bleistiftporträts, die an den Wänden hingen, alle dieselbe Frau darstellten. Manchmal lächelte oder lachte sie; meist sah sie nachdenklich, aber heiter aus.
    Auf einem besonders gelungenen Bild war sie frontal dargestellt, mit hell leuchtenden Augen und Wangen, an denen Tränen glitzerten. Ihre Züge waren nicht melodramatisch verzerrt; man sah, dass sie sich trotz ihres Schmerzes recht erfolgreich bemühte zu verbergen, wie tief er war.
    Dass Jacob in der Lage gewesen war, einen so komplexen Gefühlszustand so überzeugend wiederzugeben, bestätigte meine Einschätzung seines Talents. Die Emotion der Frau war spürbar.
    Auch der Zustand, in dem der Künstler sich bei der Arbeit an diesem Bild befunden hatte, war sichtbar, denn er war in das Werk eingeflossen. Beim Zeichnen hatte Jacob offenkundig sehr gelitten.
    »Wer ist sie?«, fragte ich.
    »Treibst du weg, wenn das Dunkle kommt?« Er hatte nur einen leichten Sprachfehler. Offenbar war seine dicke Zunge nicht gespalten.
    »Ich weiß nicht recht, was du meinst, Jacob.«
    Zu scheu, um mich anzuschauen, zeichnete er weiter. Erst nach einer kleinen Weile sagte er: »An manchen Tagen seh’ ich das Meer, aber an dem Tag hab ich’s nicht gesehen.«
    »An welchem Tag, Jacob?«

    »Am Tag, an dem sie gegangen sind und wo die Glocke geläutet hat.«
    Ich spürte zwar eine Struktur in seinen Sätzen und wusste, dass das auf eine Bedeutung verwies, doch worin die bestand, blieb mir verborgen.
    Er war bereit, das Gespräch alleine weiterzuführen. »Jacob hat Angst, dass er falsch wegtreibt, wenn das Dunkle kommt.«
    Aus dem Kästchen nahm er einen anderen Stift.
    »Jacob muss dahin treiben, wo die Glocke geläutet hat.«
    Bei diesem Satz hielt er in seiner Arbeit inne und betrachtete das unvollendete Porträt. Ein Ausdruck heftiger Zuneigung verlieh seinen schiefen Gesichtszügen eine gewisse Schönheit.
    »Hab nie gesehen, wo die Glocke geläutet hat. Sie bewegt sich, und sie bewegt das Meer, deshalb ist da, wo die Glocke geläutet hat, was Neues.«
    Traurigkeit trat in sein Gesicht, ohne dass der liebevolle Blick völlig verschwunden wäre.
    Eine Weile kaute er bekümmert auf der Unterlippe.
    Als er sich mit dem neuen Bleistift wieder ans Werk machte, sagte er: »Und das Dunkle kommt mit dem Dunklen.«
    »Was meinst du damit, Jacob … dass das Dunkle mit dem Dunklen kommt?«
    Er warf einen Blick aufs Fenster, an dem Schneeflocken klebten. »Wenn noch nicht wieder Licht ist, dann kommt das Dunkle. Vielleicht. Vielleicht kommt dann das Dunkle.«
    »Wenn noch nicht wieder Licht ist … heißt das heute Nacht?«
    Jacob nickte. »Vielleicht heute Nacht.«
    »Und das andere Dunkle, das mit der Nacht kommt … meinst du damit den Tod, Jacob?«
    Er schob die Zungenspitze wieder zwischen die Lippen. Nachdem er den Bleistift in den Fingern gedreht hatte, um ihn richtig in den Griff zu bekommen, wandte er sich dem Porträt zu.

    Ich fragte mich, ob ich wohl zu direkt gewesen war, als ich das Wort Tod ausgesprochen hatte. Vielleicht drückte er sich nicht deshalb nebelhaft aus, weil sein Verstand nur so funktionierte, sondern weil es ihn durcheinanderbrachte, über manche Themen zu konkret zu sprechen.
    Nach erneutem Schweigen sagte Jacob: »Er will mich tot haben.«

21
    Mit seinem Bleistift schraffierte Jacob Liebe in die Augen der Frau.
    Als jemand, der kein Talent hatte, außer mit der Pfanne und dem Grill zu zaubern, beobachtete ich mit Respekt, wie Jacob die Gestalt aus dem Gedächtnis schuf. Er brachte zu Papier, was er offenbar verloren hatte und nur durch seine Kunst wieder zum Leben erwecken konnte.
    Ich ließ ihm Zeit weiterzuarbeiten, doch das half nichts. »Wer will dich tot

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