Schattenpakt - Roland, L: Schattenpakt - Viper Moon (01 The Novel of the Earth Witches)
9.00 Uhr morgens
»Was machen wir heute?«, fragte Flynn.
»Ein paar Leute aufsuchen, mit denen ich reden muss. Ich nenne sie die Zuschauer. Sie haben weder ein eigenes Leben noch einen Job, und deshalb beobachten sie alles.« Wir blieben bis um acht im Bett liegen. Himmel, wie schön es mit ihm zusammen war. Ich wusste, dass er wahrscheinlich irgendwann gehen würde, und das machte mich traurig, aber im Moment war alles gut.
Als wir die River Street entlangfuhren, kamen wir an der Hausnummer 1760 vorbei. Ich dachte dieser Tage nicht mehr häufig daran, aber Flynn letzte Nacht in meinem Bett rührte Erinnerungen an eine vergangene Liebe wieder auf.
»Du hast gelächelt«, sagte Flynn. »Warum?«
»Ich habe gerade an etwas gedacht.«
»Einen alten Freund?«
Oh, also dachte er auch gerade nach. »In gewisser Weise.«
»Erzähl davon.«
Ich kaute einen Moment lang an meiner Unterlippe. Durch den starken Verkehr hatten wir anhalten müssen und standen jetzt aufgereiht wie Kekse im Backofen hintereinander. Na, es würde wohl nicht wehtun. »Als ich damals frisch das erste Mal in die Barrows kam, war ich achtzehn und musste mich erst einmal mit der Gegend vertraut machen. Abby konnte mir nicht alles zeigen. Ich kam also her und suchte nach einer Arbeit. Ich dachte, dass ich mir so am besten ein Bild von allem machen könnte. Da ich nicht viel Geld hatte, musste ich immer mit dem Bus zu ihr und zurück fahren.«
In meiner Erinnerung kehrte ich zu meinen frühen Tagen in Duivel zurück. Ich konnte nicht behaupten, dass ich sie vermisste. Mit achtzehn wirkten die Barrows viel größer, und über viele schlimme Sachen wusste ich noch gar nichts.
Der Winter war hereingebrochen, und der Bus hatte Verspätung. Ich zog meine Jacke fester um mich, doch der Wind vom Bog zog mit heftigen Böen durch die River Street. Er drang durch den Stoff wie eine Schere mit eisigen Schneiden. Das karierte Flanellhemd, das mir auf der Farm meiner Eltern im Süden gute Dienste geleistet hatte, wirkte hier so, als würde es nur aus dünner Baumwolle bestehen. Ich zog die Schultern hoch und ertrug es stoisch. Ich war schon zwanzig Blocks die Straße entlanggelaufen und hatte überall nach Arbeit gefragt, wo ich das Gefühl hatte, dafür geeignet zu sein. Der Typ vom Zooladen hätte mich wegen meiner Erfahrung mit Tieren gern eingestellt, doch er konnte sich eine Angestellte nicht leisten.
Dann bemerkte ich das Schild im ersten Stock im Fenster eines Gebäudes auf der anderen Straßenseite. Büroangestellte gesucht . Das konnte ich. Ich hatte an der Highschool als Wahlfach Wirtschaftskurse besucht. Ich stürzte wie eine Wilde über die Straße und schlängelte mich an Lastern und Autos vorbei, um zu dem Gebäude zu gelangen.
Die altersschwache Treppe, die in den ersten Stock führte, knarrte unter meinen Füßen. Eine Stufe knackte so laut, dass ich dachte, ich würde gleich durchbrechen. Schnell hielt ich mich am Geländer fest und wurde mit einem Splitter belohnt. Außerdem war es hier drinnen nicht viel wärmer als draußen. In der Luft hing ein muffiger Geruch, der mir sagte, dass meine Suche in diesem Haus genauso hoffnungslos war wie das Gebäude selbst.
Oben auf dem Treppenabsatz gab es zwei Türen. Die eine war mit einem Vorhängeschloss gesichert, an der anderen hing ein Schild.
E. Durbin, Privatdetektiv.
Ich öffnete die Tür und trat ein.
Im fensterlosen Vorzimmer standen ein Tisch, ein Stuhl und ein durchhängendes Sofa, auf dem sich Kartons türmten. Eine dünne Schicht Staub lag auf dem Tisch, und die Fußspuren eines winzigen vierbeinigen Tieres zogen sich in einer Schlangenlinie über die Tischplatte. Durch eine riesige undichte Stelle im Dach zogen sich zimtfarbene Wasserflecken wie Blumen über die Decke. Der Geruch … Ich versuchte, ganz flach zu atmen.
Der Boden knarrte immer noch unter meinen Füßen, obwohl hier ein Teppich lag, der so aussah, als hätten eine Million Seelen ihre Füße auf dem Weg in Himmel oder Hölle daran abgewischt.
»Verschwinden Sie«, ertönte eine barsche Stimme aus einem anderen Zimmer.
Ich trat in eine offene Tür. Hinter einem Tisch saß ein Mann. Er sah dürr und hager aus wie jemand, der stundenlang draußen in der Sonne hart arbeitete. Er mochte wohl um die vierzig sein, doch das war schwer zu sagen. Dunkle Haare mit ein paar grauen Strähnen, graue Augen … In seiner Jugend mochte er wohl gut ausgesehen haben; er sah auch jetzt noch gut aus, aber irgendwie … verbraucht.
Weitere Kostenlose Bücher