Schattenreiter
dein Stamm in die Wälder zurückzog. Aber warum bist du nicht bei ihnen geblieben? Wieso lebst du unter den Menschen und vertraust ausgerechnet einer von ihnen all das an?«
Rin hob den Kopf. Seine Augen funkelten. Die Erinnerungen mussten alte Wunden aufgerissen haben, und ich verspürte den Drang, die Arme um ihn zu legen, ihn zu trösten, war mir aber nicht sicher, ob er das zugelassen hätte.
»Weil du anders bist.«
Ich war gerührt von seinen Worten.
»Ich sah dich und wusste, dass ich dir vertrauen kann.«
Das erstaunte mich. »Woher wusstest du das? Ich war doch eine völlig Fremde für dich.«
»Nein, das warst du nicht. Ich kannte dich, bevor wir uns begegneten.« Seine Stimme klang rau und zitterte leicht.
»Mein Stamm pflegt eine alte Tradition. Einmal im großen Kreislauf besucht der Cha-Bekum, der Schamane, das Dorf, um den Ti’tibrin, die alt genug sind, um von den Älteren ausgebildet zu werden, die Zukunft vorauszusagen. Der Schamane lebt in einer Höhle in Hokatriri, und der Weg zu uns ist für ihn sehr beschwerlich. Deswegen bleibt er fünf Nächte und lebt in der Zeit im Haus des Häuptlings als dessen Gast.
Die meisten Jungen wünschen sich, Krieger zu werden. Denn dieser ist das stärkste Glied in der Kette, er schützt die Frauen und Kinder, die Alten und Schwachen, er ruft zur Jagd, beschafft die Beute und verteidigt sein Volk gegen Gefahren. Eine ehrenhafte Aufgabe, die viel Anerkennung findet.
Ich erinnere mich, dass der Dorfplatz überfüllt war. Alle Kinder des Stammes und ihre Familien waren gekommen, um zu hören, was der Schamane sagen würde. Jeder von uns legte seine Hand in die des Schamanen. Er stimmte leisen Gesang an, konzentrierte sich auf die Zorwaya, nahm Kontakt mit ihnen auf und konnte schon nach kurzer Zeit jedem Kind sagen, was das Schicksal für ihn bereithielt.
›Dein Pfad ist der des Jägers, du wirst ein Arou-newe.‹ Dieser Satz fiel an diesem Tag sehr oft. Es gab aber auch Ti’tibrin, denen der Schamane eine Zukunft als Handwerker vorhersagte. Als ich an der Reihe war, meine Hand, so wie vor mir die anderen, in seine legte und gebannt darauf wartete zu hören, welcher Weg mir vorherbestimmt war, schüttelte der Schamane den Kopf.
›Ich kann nichts bei dir sehen‹, sagte er. Und ich war unendlich enttäuscht. Aber auch besorgt, denn ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte.
Am selben Abend rief mich der Schamane noch einmal zu sich. Ich setzte mich vor ihn, voller Ehrfurcht, denn ich wusste, dass kein Mann unseres Stammes mächtiger war als er. Sein Gesicht war alt und weise, das Haar schimmerte silbern. Er griff nach meiner Hand und vollzog ein zweites Mal das Ritual.
›Jetzt kann ich es deutlich sehen‹, sagte er. ›Eine besondere Zukunft liegt vor dir. Ich werde dich ausbilden, und du wirst eines Tages Schamane sein. Aber es gibtauch eine Abzweigung, die dich in eine neue Richtung führt. Ich sehe ein Mädchen der Gaien. Du wirst ihr Leben retten und sie das deine. Dich wird mehr mit ihr verbinden als mit jeder Frau des Dorfes. Ich spüre, dass du es auch fühlen kannst.‹
›Ich träumte von dem Mädchen‹, erwiderte ich. ›Sie ist wunderschön, Cha. Sie ritt auf einem Löwen, der für Mut und Tapferkeit steht.‹
›Was du gesehen hast, ist deine Zukunft. Doch bedenke stets, die Zeit ist in Bewegung und veränderlich. Du musst deine Entscheidungen treffen. Sie sind es, die dich leiten werden.‹ Mit diesen Worten schickte er mich nach Hause zurück, und ich begriff ihre Bedeutung erst viel später. Als ich dich traf, Jorani, wusste ich, dass du es warst, die ich in meinen Träumen gesehen hatte. Ich war vorgewarnt. Ich wusste, was das Schicksal für mich bereithielt. Aber ich hatte trotzdem nicht erwartet, dass ich mich so stark zu dir hingezogen fühlen würde. Ich versuchte, mich dagegen zu wehren, meinem Verlangen zu widerstehen, doch ich konnte es nicht.«
»Meinetwegen bist du nach Calmwood gekommen?« Ich konnte nur erahnen, wie schwer es für ihn gewesen sein musste, die Menschenstadt zu betreten, ihnen vorzuspielen, einer von ihnen zu sein. Ihre Gepflogenheiten waren ihm fremd, und dennoch hatte er ihre Sprache gelernt, und zwar so gut, dass nicht nur ich kaum einen Akzent hörte.
»Ja«, gab er zu und blickte zu mir hoch. Ich bemerkte seinen Schmerz. Die Angst, ich könne mich nach allem, was ich heute erfahren hatte, von ihm abwenden. Doch das Gegenteil war der Fall. Ich fühlte mich stärker denn je mit ihm verbunden, und
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