Schattenreiter
kräftig. Ungewollt löste ich die feuerrote Feder, die in einem fein geflochtenen Zopf steckte.
»Sorry«, sagte ich und versuchte, sie wieder zu befestigen. Aber Rin nahm sie mir ab und hielt sie hoch, drehte sie, um sie von allen Seiten zu betrachten. Es war eine schöne Feder, die wie Seide schimmerte.
»Jede Farbe hat eine andere Bedeutung.«
Ich schmiegte meinen Kopf an seinen. »Und welche Bedeutung hat eine rote Feder?«
»Sie ist eine Einladung.«
»Ach ja?«
»Hevova hat sie mir gebracht, deswegen war sie hier. Der Ältestenrat hat beschlossen, dass ich an der Me’solbrem, dem Ritual der Mannwerdung, teilnehmen darf.«
»Mannwerdung?«, fragte ich erstaunt. Rin sah ganz sicher nicht mehr wie ein Junge, sondern wie ein ausgewachsener Mann aus. Wozu also noch ein solches Ritual?
»Die Me’solbrem ist wie eine zweite Geburt, die höchste Auszeichnung für einen Jüngling, der seinen Mut und seine Tapferkeit, seine Kampfkunst und seine Besonnenheit unter Beweis stellt. Besteht er alle Prüfungen, so erhält er vom Häuptling die blaue Feder, mit der mehr Pflichten innerhalb der Gemeinschaft einhergehen. Man genießt aber auch mehr Respekt. Das Wort eines Mannes zählt um ein Vielfaches als das eines Jungen. Außerdem ist es ihm erlaubt, sich in den Ältestenrat wählen zu lassen, einen eigenen Clan innerhalb des Stammes zu gründen und eine Frau auszuwählen.«
Bei diesen Worten blickte er mir tief in die Augen, als wollte er mir sagen, dass er seine Entscheidung für eine bestimmte Frau längst getroffen hatte. Mein Herz machte vor Freude einen Satz.
Rin ließ die Feder sinken. »Es bedeutet aber auch, dass ich für einige Zeit fortmuss.«
Das gefiel mir gar nicht. Ich richtete mich auf. Aber Rins starke Arme legten sich um meine Taille und zogenmich wieder zu ihm herunter. Seine Lippen berührten meinen Mund.
»Das ist Teil der Me’solbrem. Sie besteht aus vier Prüfungen. Nur wer sie besteht, wird in den Stand des Mannes erhoben. Jeder Junge nimmt irgendwann an der Me’solbrem teil. Völlig gleich, ob er den Weg des Kriegers oder des Schamanen gewählt hat.«
»Vier Prüfungen? Wow. Da wird euch ja so einiges abverlangt.«
Er lachte. »Ja, man muss sich die Würde des Mannes verdienen, sie wird einem nicht in die Wiege gelegt. Aber keine Sorge, es ist nicht so schwer, wie du denkst. Im Gegenteil, die erste Prüfung ist sogar ziemlich einfach. Man kann den Ausgang nicht beeinflussen, es ist das Schicksal, das entscheidet. Der Häuptling hütet E’apa-Tisa, die Blume des Schicksals, die bestimmt, ob man der Me’solbrem würdig ist. Er legt die Blume in die Hand des jeweiligen Schülers. Öffnet sie sich, wird er zu den Prüfungen zugelassen. Bleibt sie verschlossen, so muss er auf die nächste Me’solbrem warten. Begleitet wird dies alles von großen Feierlichkeiten in Ven’Callas. Man reicht guten Wein und süßes Pemmikan.«
»Ist dir das schon mal passiert? Ich meine, dass sich die Blume nicht öffnete?« Das erklärte vielleicht, warum er zwar wie ein ausgewachsener Mann aussah, diesen Status aber noch nicht besaß.
Rin nickte. »Ich war noch nicht so weit, und E’apa-Tisa hat das erkannt. Aber dieses Jahr werde ich die Prüfung bestehen. Jede von ihnen.«
»Und worin bestehen die anderen Prüfungen?«, fragte ich neugierig.
Rin fuhr mit großer Begeisterung fort. »Die zweite Prüfung nennen wir Bo-tata-Lon. Es bedeutet Berg der Demut. Jeder Schüler klettert auf einen Berg in den Wäldern und bleibt dort einen Tag und eine Nacht, ohne Essen oder Trinken. Er soll lernen, was es bedeutet, Verzicht zu üben, sich zugleich auf kalte Wintertage oder schwere Zeiten vorbereiten, in denen das Essen knapp wird. In der Nacht darauf treffen sich die Ti’tibrin in der Hand des Himmels. Wir nennen sie Fuga’a-tata-Skilarg. Es heißt, unsere Ahnen schauen an jenem Abend auf uns herab und stärken ihre Söhne, die sich im Zweikampf, Mann gegen Mann, beweisen müssen.«
»Klingt gefährlich.«
»Es geht nicht um Kraft, sondern darum, sein Geschick auf die Probe zu stellen. Jeder kann einen großen, viel stärkeren Gegner besiegen, wenn er Ehre im Herzen trägt und großen Verstand besitzt. Die letzte aller Prüfungen ist Rukatruk-tata-Barg, die Jagd nach dem Zorwaya eines mächtigen Bisons, der vor langer Zeit erlegt wurde. Seine Knochen liegen im großen Bisonfriedhof in den Badlands. Die Schüler müssen beweisen, dass sie nicht nur gegeneinander kämpfen, sondern auch zusammenarbeiten
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