Schattenriss
rostzerfressene Tür hinter sich zu. Einen Riegel oder gar ein Schloss gab es nicht. Von irgendwoher fiel ein Licht auf sie herab. Tageslicht, wie sie aufgeregt feststellte. Ohne lange nachzudenken, stellte sie sich auf den Rand des Toilettenbeckens und reckte den Kopf, wobei sie ein schmales Fenster entdeckte, gut drei Meter rechts von sich. Die Öffnung war mit Brettern vernagelt, aber an den Rändern sickerte ein wenig Sonnenlicht herein. Und die Bohlen machten eigentlich nicht den Eindruck, als ob sie besonders stabil wären ...
»Was ist jetzt?«, riss die Stimme des Jungen sie aus ihren Gedankenspielen. »Bist du so weit?«
»Nein«, rief sie hastig. »Bitte ... Ich brauche noch einen Augenblick.«
Er antwortete nicht, aber sie wollte auch nicht zu viel riskieren. Zumindest nicht, solange Brutalo-Bernd in der Nähe war.
Also benutzte sie die Toilette, deren Brille zusammen mit dem großen Rest der Einrichtung irgendwohin verschwunden war, und suchte eine Weile nach dem Knopf für die Spülung. Bis ihr klar wurde, dass es in einer stillgelegten Fabrikanlage vermutlich sowieso kein fließendes Wasser gab.
Winnie Heller löste die Schleife ihres linken Turnschuhs, stieß die Tür auf und sah den Jungen, der in der Zwischenzeit sichtlich nervös geworden war, mit einem unschuldigen Lächeln an. »Sagen Sie, es gibt hier ja nicht zufällig eine Möglichkeit, sich die Hände zu waschen, oder?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Gehen wir.«
»Augenblick noch.« Sie bückte sich. »Ich glaube, mein Schnürsenkel ist auf.«
Er blickte sich unbehaglich um, ließ sie jedoch gewähren.
Ein Geiselnehmer tut sich schwerer, eine Geisel zu erschießen, zu der er zuvor – freiwillig oder unfreiwillig – eine persönliche Beziehung aufgebaut hat.
»Und?«, fragte Winnie Heller, indem sie sich bewusst ungeschickt mit dem Schuhband abmühte. »Was haben Sie für Pläne?«
Der Junge sah auf sie herab. Überrascht, wie ihr schien. »Was meinen Sie?«
»Na ja«, antwortete sie lachend, »Sie fordern doch Geld, oder nicht?«
Der Junge antwortete nicht.
»Ich meine, sonst würde die ganze Sache ja wohl keinen Sinn machen.«
Noch immer Schweigen.
Winnie Heller wartete darauf, dass er in Wut geriet, doch er schien eher Angst zu haben. Nichts als nackte Angst. »Also«, sagte sie so beiläufig wie möglich. »Was haben Sie vor mit den Millionen, die Sie für unsere Freilassung bekommen?«
Auch dieses Mal rechnete sie eigentlich nicht damit, eine Antwort zu erhalten, doch sie irrte sich.
»Australien«, sagte der Junge so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte.
»Wollen Sie da hin?«
Sein Mund war ein bläulicher Strich im Widerschein der Taschenlampe, und er wirkte mit einem Mal verstockt. So als ob er das Gefühl habe, mit diesem einen Wort schon zu viel gesagt zu haben.
Kein Zweifel, er war misstrauisch. Jung zwar, wahrscheinlich auch einigermaßen unerfahren. Aber weder dumm noch unvorsichtig.
Sag was!, dachte Winnie Heller. Versuch dein Glück!
Da war etwas in seinen Augen gewesen, eben. Etwas, das ihr sagte, dass die Tür einen Spalt breit aufstand. So eine Chance durfte sie auf keinen Fall vertun.
»Ob Sie’s glauben oder nicht, ich war auch noch nicht dort«, bemerkte sie in munterem Plauderton, und ihre Stimme klang blechern zwischen den alten Kacheln. »Im Grunde habe ich noch nicht mal eine vage Vorstellung von Australien. Ich meine, ich kenne nur das, was man eben so kennt. Sie wissen schon, das Great Barrier Reef, Ayers Rock und wenn’s hochkommt, noch ein Foto der Oper von Sydney.«
Passend zu meinen wagnerianischen Eltern, fügte sie in Gedanken hinzu.
Festige den Hintergrund. Erinnere ihn an etwas, das er schon weiß, damit es sich in seinem Gedächtnis festbrennt. Das schafft Vertrautheit. Und diese Vertrautheit könnte so etwas wie deine Lebensversicherung werden.
Der Junge reagierte nicht, aber er brachte sie auch nicht zum Schweigen.
War das nicht eigentlich ein gutes Zeichen?
»Aber mein Gehalt würde wahrscheinlich sowieso nicht bis nach Australien reichen«, fuhr sie fort. »Gut, zugegeben, es ist auch nicht gerade wenig, aber üppig ... Nee, üppig ist echt was anderes.«
Vorsicht , mahnte ihre innere Stimme. Verrat ihm nicht zu viel!
»Na ja, wenigstens wird das Fliegen immer billiger«, setzte sie hastig hinzu, »und wer weiß, vielleicht kommt man eines Tages für neunundzwanzig Euro bis nach Sydney, was denken Sie? Und wenn es so weit ist, das schwöre ich Ihnen, wenn
Weitere Kostenlose Bücher