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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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ging der Junge geradeaus.
    Die mittlere der drei Türen führte auf einen langen, breiten Flur hinaus, von dem links und rechts verschiedene Türen abgingen. Das Licht der Taschenlampe zuckte über feuchte Wände, Rauputz, der bis auf Hüfthöhe eines Erwachsenen einmal hellgrau gestrichen gewesen war. Jetzt allerdings bröckelte es allenthalben. In den Nischen lagen Zentimeter hoch die Farbreste. Hier und da entdeckte Winnie Heller ein unmotiviertes Graffiti, das dafür sprach, dass das Gebäude, in dem sie sich befanden, tatsächlich schon über einen längeren Zeitraum hinweg leer stand. Zumindest lange genug, um von gelangweilten Jugendlichen okkupiert und anschließend wieder verworfen worden zu sein. Vielleicht, weil es zu weit außerhalb lag, um sich dauerhaft als Quartier einer Jugendbande zu eigenen. Vielleicht auch, weil es irgendwann seinen Reiz verloren hatte.
    Winnie Heller betrachtete den Nacken des jungen Entführers, der unter dessen Sturmhaube hervorlugte und nicht gerade imposant wirkte. Dünn und auf eine beinahe kindliche Art und Weise zart. Als Nächstes überlegte sie, wie groß der Junge sein mochte. Eins fünfundsiebzig vielleicht, auf keinen Fall größer als eins achtzig. Also maximal sechzehn Zentimeter größer als sie selbst. Dass er ihr den Rücken zuwandte, wunderte sie, auch wenn dieser Leichtsinn zu ihrer Einschätzung passte, dass der junge Geiselnehmer nicht gerade über ein großes Maß an Routine verfügte. Ein finsterer Türschacht, ein beherzter Sprung und weg wäre ich, dachte sie. Oder war der Junge am Ende gar nicht so unvorsichtig, wie es den Anschein hatte? Wusste er, dass es aus den Räumen, an denen er sie vorbeiführte, ohnehin keinen Ausweg gab? Keinen Weg in die Freiheit?
    Und dennoch ...
    Selbst wenn es hart auf hart käme, dachte sie, mit ein bisschen Glück könnte ich ihn vielleicht überwältigen. Ihre Augen wanderten am Rücken des Jungen abwärts, während sie in aller Eile die Alternativen erwog, und unwillkürlich musste sie dabei auch an den spektakulären Amoklauf denken, mit dem Verhoeven und sie es im vergangenen Herbst zu tun gehabt hatten. Der jugendliche Amokschütze hatte damals ganz gezielt einen seiner Mitschüler als Sündenbock auserwählt und den Betreffenden für den Zeitpunkt der Bluttat ins Untergeschoss der Schule bestellt. Dort hatte er nach dem Massaker versucht, den Jungen dazu zu bewegen, mit ihm die Kleider zu tauschen, um das Schulgelände in der Maske eines gewöhnlichen Schülers verlassen zu können, während die von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidete Leiche des vermeintlich Schuldigen in einem fensterlosen Raum unter der Turnhalle zurückbleiben sollte. Doch der Plan war fehlgeschlagen, weil der als Sündenbock vorgesehene Schüler sich mit einem entschlossenen Hechtsprung in einen angrenzenden Duschraum gerettet hatte.
    Winnie Heller blickte über ihre Schulter zurück, um zu sehen, ob sie tatsächlich allein waren, der Junge und sie. Doch bevor sie Gelegenheit gehabt hätte, sich zu orientieren, hieß der jugendliche Geiselnehmer sie auch schon anhalten.
    »Da rein!«
    Seine Hand wies auf eine rostige Stahltür in der linken Wand. Dahinter blitzten im Licht seiner Taschenlampe Kacheln auf. Andere als die, die in früheren Zeiten die Grube ausgekleidet hatten. Helle.
    Winnie Heller schluckte ihren Ärger über die verpasste Chance hinunter und ging voran. Ganz so, wie er es ihr befohlen hatte.
    Bei dem Raum, der hinter der Tür lag, schien es sich um eine ehemalige Sanitäranlage zu handeln. An der linken Wand war eine Reihe zerborstener Pissoirs zu erkennen. Und ein Stück weiter hinten gab es auch Kabinen. Zwei, um genau zu sein, einander gegenüber. Das Wenige, was in diesem Raum vielleicht einmal von Wert gewesen war, hatten Plünderer mitgehen lassen. Und doch machte das, was noch übrig war, den Eindruck einer ehemals recht feudalen Ausstattung. Winnie Heller sah sich flüchtig um und dachte, dass es sich bei diesem Raum vermutlich nicht um eine gewöhnliche Personaltoilette gehandelt hatte. Vielleicht waren die Bonzen hier aufs Klo gegangen. Irgendwelche Vorarbeiter oder Schichtleiter oder wie immer man das nannte.
    Jetzt allerdings war der Raum ein Schlachtfeld. Ein Schlachtfeld, das obendrein unangenehm muffig nach fauligem Wasser und Exkrementen stank.
    »Da hinten.«
    Der Strahl seiner Lampe wies ihr den Weg zu einer der beiden Kabinen. Der linken.
    »Und beeil dich.«
    »Mach ich.«
    Winnie Heller zog die

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