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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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sollen aufhören, ihn so blöd anzuglotzen, alle miteinander. Und überhaupt, er will jetzt nach Hause und Lego spielen. Er hat da eine Idee für ein Haus, da könnte sogar eine Eisenbahn durchfahren, und ...
    Irritiert blickt er auf, als er plötzlich den Arm seiner Mutter spürt, der sich unbemerkt um seine Schulter gelegt haben muss und der ihn jetzt ganz fest, viel fester als gewöhnlich, auf den Stuhl zurückdrückt. Etwas ist anders als sonst, so viel hat Justin inzwischen verstanden. Etwas, das mit dem Mann zu tun hat, der ihm das doofe Päckchen gegeben hat. Immer soll er über den reden, dabei würde er, wenn er schon reden muss, viel lieber über den Ball sprechen, den er sich beinahe zurückerobert hat. Von dem dummen Raupenzopfmädchen. Aber immer, wenn er davon anfängt, guckt die blöde Brillentante ganz komisch, und dann sagt sie, dass er ihr etwas über den Mann mit dem Päckchen erzählen soll.
    Die Hand seiner Mutter gleitet tiefer. »Halt still, Justin«, flüstert sie, die langen Finger jetzt wie einen Schraubstock um seine Arme gekrallt.
    LASS MICH LOS, schreit Justin und spuckt ihr mitten ins Gesicht. Normalerweise etwas, das ihm einen Klaps einträgt oder Schlimmeres.
    Aber dieses Mal passiert nichts.
    Vielleicht, weil die Brillentante dabei ist.
    LASS MICH, wiederholt Justin, etwas leiser als zuvor, weil es plötzlich ganz still ist um ihn herum und alle ihn ansehen.
    Und dann hört er, wie sein Vater etwas sagt, das er nicht versteht.
    »Möchtest du, dass wir eine Pause machen?«, fragt die Brillentante mit einem Lächeln, das ihm irgendwie falsch vorkommt. »Hast du vielleicht Durst? Ja, Justin? Warte, Herr Gruber holt dir einen Saft. Magst du Apfel? Oder lieber Orange? Apfel?«
    Fragen, Fragen, Fragen ...
     
     
     

9
     
    »Meinen Sohn?«
    So, wie Ylva Bennet das Wort aussprach, klang es, als gehöre es einer anderen Sprache an. Einer, die ihr Mühe bereitete.
    Verhoeven sagte nichts. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dessen, was er inzwischen über sie wusste, hatte er das Gefühl, sie nicht stören zu dürfen, während sie sich den holprig gewordenen Pfad ihrer Erinnerung zurücktastete.
    Aber er wartete umsonst.
    Ylva Bennet beließ es bei ihrer ungläubigen Rückfrage.
    »Sie haben Ihren Sohn am 28. Januar 1973 in Ihrer Heimatstadt Magdeburg zur Welt gebracht«, versuchte er, ihr auf die Sprünge zu helfen, als er merkte, dass sie anders nicht weiterkommen würden. Und wie um die Sache noch anschaulicher zu machen, fügte er hinzu: »Es war Winter damals, erinnern Sie sich? Nur ein paar Wochen nach Weihnachten.«
    Die Frau, die ihn eingelassen, die bewaffneten Männer in seinem Rücken mit einem kurzen, desinteressierten Blick bedacht und dann in einem schäbigen Sessel ihm gegenüber Platz genommen hatte, schaute auf ihre Hände hinunter und lächelte. Sie musste einmal recht groß gewesen sein, das war Verhoeven sofort aufgefallen. Groß und sicher auch sehr attraktiv. Jetzt allerdings bewegte sie sich wie jemand, der sich am liebsten für seine eigene Existenz entschuldigt hätte.
    Sie machte den Eindruck, als sei sie gar nicht da ...
    »Frau Bennet?«
    Nicken.
    Immerhin. Aber was hieß das? Dass sie zur Kenntnis genommen hatte, worum es hier ging? Oder dass er sie beim richtigen Namen ansprach?
    Verhoeven schaute sich ratlos in dem kleinen, annähernd quadratischen Wohnzimmer um. Überall an den Wänden hingen Stickbilder, die selbst gemacht aussahen. Doch zu seiner Verwunderung konnte er nirgendwo Stickutensilien entdecken. Und auch kein anderes Handarbeitszeug. Seine Augen kehrten wieder zu Ylva Bennet zurück, und er dachte daran, dass sie als Näherin gearbeitet hatte, während ihres Aufenthaltes in der Psychiatrischen Klinik, von der Hinnrichs gesprochen hatte.
    »Sie erinnern sich doch an Ihren Sohn?«
    War das jetzt ein Nicken gewesen?
    Verhoeven war sich nicht sicher.
    »Ich weiß, dass er Ihnen fortgenommen wurde, als er noch ein Baby war. Aber inzwischen ... Inzwischen haben Sie ihn wiedergesehen, nicht wahr?«
    Nicken. Eindeutig dieses Mal, wenn auch entfernt.
    »War er hier?«
    Keine Reaktion.
    Verhoevens Blick glitt von den Stickereien zum Fernseher hinüber. Über dem altmodischen Gerät hingen ein paar Bilder von Tennisturnieren. Sie waren achtlos aus irgendeinem Magazin herausgeschnitten und anschließend mit Reißzwecken und Stecknadeln an der weißen Wand befestigt worden und zeigten ein paar der erfolgreichsten Spielerinnen der letzten dreißig Jahre: Billy

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