Schattenriss
Jean King. Martina Navratilova. Chris Evert. Steffi Graf. Verhoeven überlegte, ob die Bilder wohl bedeuteten, dass Ylva Bennet Tennis gespielt hatte, irgendwann, zu einem sehr frühen Zeitpunkt ihres Lebens. Und ob sie vielleicht auf diese Weise versuchte, die Erinnerung an jene Zeit aufrechtzuerhalten.
»Ist Teja hierher zu Ihnen gekommen?«, bemühte er sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf seine Fragen zu lenken. »Hat er Sie hier in dieser Wohnung besucht?« Nein, dachte er, ärgerlich über
sich selbst. So kann sie mich gar nicht verstehen! »Maik, meine
ich«, korrigierte er sich hastig. »War Maik irgendwann mal hier?«
Ylva Bennet sah ihn an, als habe er den Verstand verloren.
»Ich spreche von Ihrem Sohn«, stellte Verhoeven noch einmal klar. »Haben Sie eine Ahnung, wo er sich im Augenblick aufhält?«
Die Frau im Sessel sah zum Fenster und murmelte etwas, das wie »Tony« und irgendwie auch nach Protest klang.
»Wir wissen, dass Sie mit ihm bei einem Empfang waren. Drüben im Staatstheater. Erinnern Sie sich?«
Jetzt reagierte sie wieder gar nicht. Aber das hieß nichts bei ihr. So viel immerhin hatte Verhoeven bereits mitbekommen.
»Ich glaube ...« Er zögerte, eine Idee auszusprechen, über die er sich selbst noch nicht restlos im Klaren war. Aber schließlich tat er es doch: »Ich glaube, Sie haben dort jemanden gesehen, den Sie von früher kennen.«
Er achtete auf ihre Pupillen. Aber sie blieben unverändert. »Haben Sie Ihrem Sohn diese ... Person gezeigt?«
Nichts. Leere. Regungslosigkeit.
Ich bin mir ganz sicher, dass ich die Frau auf dem Bild schon mal gesehen habe. Es war bei einem Empfang, drüben im Staatstheater, und ich hatte das Gefühl, dass sie meinen Mann anstarrt ...
»Frau Bennet?«
Stumpfes Schweigen.
»Sagt Ihnen der Name Walther Lieson etwas?«
Falls ja, hatte sie, die ein Drittel ihres Lebens in geschlossenen Anstalten verbracht hatte, zweifellos gelernt, wie man seine wahren Gefühle unter einer Fassade von Gleichgültigkeit verbarg. Ihr Blick schweifte ziellos im Raum hin und her, während der Rest von ihr in einer beinahe gespenstigen Ruhe verharrte.
»Und was ist mit ...« Jetzt war er gespannt! »... Malina?«
Doch auch dieses Mal zeigte Ylva Bennet keine Reaktion auf seine Frage. Weder Überraschung noch Unverständnis, noch Angst.
Es klang bestürzt, verstehen Sie? So als ob sie sich erschreckt hätte …
Stattdessen sagte sie: »Er hat gar nicht erst auf die Welt kommen wollen«, und für den Bruchteil einer Sekunde lag etwas wie Schmerz in ihrem Blick. Doch der Eindruck verflog, noch bevor Verhoeven ihn richtig realisiert hatte. Trotzdem war er jetzt sicher, dass sie wusste, wovon er sprach.
»Es muss furchtbar sein, zu wissen, dass irgendwo dort draußen ein Kind ist, das auf einen wartet, und man bekommt keine Chance, sich um dieses Kind zu kümmern«, sagte er, ebenso sehr zu sich selbst wie zu ihr.
Und nun sah sie ihn plötzlich an. Ihre Augen waren braun, eine warme, fast sonnige Farbe, die vortrefflich zu den wenigen kastanienbraunen Strähnen passte, die das Grau auf ihrem Kopf von ihrem Naturton übrig gelassen hatte. »Könnten Sie so etwas tun?«, fragte sie mit einer Stimme, die genauso leer war wie der Ausdruck in ihrem Gesicht.
Verhoeven schüttelte verwirrt den Kopf. »Was?«
»Das ist nicht recht gewesen«, sagte sie, während sich das Unverständnis in ihrem Blick verhärtete. Mehr noch: Es bekam unter Verhoevens Augen eine andere Qualität. Eine Art stumpfe Undurchdringlichkeit. »Das eigene Kind ...«
»Ihr Sohn steckt in Schwierigkeiten«, hörte Verhoeven sich sagen, bevor er etwas dagegen unternehmen konnte. »Aber wir werden ihn finden. Und wir werden alles tun, um zu verhindern, dass die Sache noch schlimmer wird.«
Zu seiner Überraschung fragte sie: »Können Sie reiten?« Verhoeven schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«
»Freiheit«, murmelte Ylva Bennet mit einem leisen Lächeln auf den welken Lippen. »Auf dem Rücken eines Pferdes vergisst man alle Ängste. Und man wird frei.« Das Lächeln verblasste. »Man kann auch in einem kleinen Zimmer galoppieren«, flüsterte sie. »Rein theoretisch.«
»Ja?«
Wieder Lächeln. Neu poliert. »Ja, aber es tut zu weh.«
Verrückt oder weise?, überlegte Verhoeven. Oder doch ganz etwas anderes? War diese Frau dort die beste Schauspielerin, die er je gesehen hatte? Er konnte es nicht sagen. Genau genommen hatte ihn noch nie im Leben ein Mensch mit einer derart großen Ratlosigkeit
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