Schattenriss
Missverständnisse aufkommen ...« Winnie Heller hatte das Gefühl, dass ihm die Sache einen Heidenspaß machte. »Ich habe hier niemandem etwas getan, was derjenige nicht wollte.« Er grinste. »Das heißt, bis auf die brünette Schlampe natürlich, stimmt’s nicht?«
Das ging an Jenna.
»Erzähl unserer Oberbullin doch mal, wie du dich mir an den Hals geworfen hast, du perverses kleines Miststück.«
Die Blondine begann leise zu schluchzen, doch es kamen keine Tränen. Die blauen Augen blieben stumpf und trocken.
»Wird’s bald, du kleine Nutte?! Sag ihnen, wie du mich angemacht hast!«
Winnie Heller betrachtete das ohne Make-up beinahe kindlich wirkende Gesicht der Bankangestellten und dachte, dass hinter dem, was der Entführer sagte, vielleicht ein Körnchen Wahrheit steckte. Jenna Gercke war zweifelsohne eine Kandidatin für das Stockholm-Syndrom, und nachdem sie erst vorhin wieder über die Möglichkeit einer gewaltsamen Geiselbefreiung diskutiert hatten, war es durchaus nicht unmöglich, dass sich bei der jungen Bankangestellten die Perspektiven inzwischen so weit verschoben hatten, dass sie sich nicht nur fügsam und kooperativ zeigte, sondern sogar aktiv versuchte, eine Art Notgemeinschaft mit den Entführern einzugehen.
»Du elende Schlampe!« Bernd krallte seine rechte Hand unter Jennas Kinn und fuhr ihr mit den Fingern der linken über die Wange. Die Nägel hinterließen eine weiße Spur im Gesicht der Blondine. »Sag die Wahrheit!«
Winnie Heller versuchte der Bankangestellten mit Blicken zu verstehen zu geben, dass sie besser sagte, was der Entführer von ihr verlangte. Ganz egal, ob es der Wahrheit entsprach oder nicht. Doch Jenna schien überhaupt nicht in der Lage zu sein, auf seine Forderung zu reagieren. Sie blickte einfach stur geradeaus, während sich die Nagelspur in ihrem ansonsten kalkweißen Gesicht mit Blut füllte. Es sah aus, als ob man ein blutendes Wild durch den Schnee geschleift hätte.
Und wieder schauen sie alle nur zu, dachte Winnie Heller, indem sie zu Quentin Jahn und Abresch hinüber sah. Wie ist das eigentlich gewesen?, überlegte sie. Wer hatte das harmlose Schach-Gespräch, mit dem die beiden sich die Zeit vertrieben hatten, auf einen möglichen gewaltsamen Zugriff durch die Polizei gelenkt und Jenna Gercke damit eine solche Angst eingejagt, dass sie ...
Ja, was denn eigentlich?
Winnie Hellers Blick suchte wieder die nackten Beine der Blondine, die noch immer vor Brutalo-Bernd im Staub kniete. Da war eine ganze Menge Blut, so viel stand fest. Und selbst wenn die junge Bankangestellte tatsächlich versucht hatte, sich – auf welche Weise auch immer – mit einem ihrer Entführer gutzustellen, mit echter Freiwilligkeit hatte das so wenig zu tun wie ein Topflappen mit einem Kaninchen.
Neue Schritte oberhalb der Treppe ließen sie aufblicken. Alpha!
Der Schatten des Anführers goss sich über den stumpfen Boden bis zur Rückwand der Grube und verharrte dann regungslos.
Bernd sah ebenfalls auf, dachte aber gar nicht daran, Jennas Kinn loszulassen. Und dieses Mal griff Alpha auch nicht ein. Stattdessen stand er einfach da und blickte in die Grube hinunter.
Irgendwas stimmt nicht, dachte Winnie Heller alarmiert. Denn dass sich der Anführer der Geiselnehmer irgendwie verändert hatte, war ihr bereits bei seinem letzten Auftauchen am Rand der Grube aufgefallen. Da hatte er eine Schachtel mit Tabletten zu ihnen heruntergeworfen und gesagt: »Sorgen Sie dafür, dass er es nimmt.«
Nichts weiter.
Jemand hatte »Danke« gesagt. Doch der Entführer hatte nicht reagiert, sondern sich auf dem Absatz umgedreht und war verschwunden.
Winnie Heller konnte nicht sagen warum, aber sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas Gravierendes passiert war. Etwas, das ihm im wahrsten Sinne des Wortes an die Substanz ging. Ihm ganz persönlich. Und jetzt stand er also wieder da und blickte auf sie herunter.
Fast so, als suche er jemanden ...
Winnie Heller merkte, wie sich etwas in ihrem Magen zusammenzog, und erst mit einiger Verspätung wurde ihr der Grund dafür klar: Der Mann, den sie schlicht Alpha nannte, trug keine Maske mehr!
4
»Malina war der Deckname eines Stasioffiziers namens Hans Selinger«, referierte Kai-Uwe Luttmann aus der E-Mail, die er vor wenigen Minuten erhalten hatte. »Er wurde 1941 in einem kleinen Kaff in Thüringen geboren, studierte an derselben Universität wie Ylva Bennet und gehörte zu deren engerem Freundeskreis.«
Hinnrichs schob seine
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