Schattenriss
Brille zurück. »Und wieso kommt Maik Voigt dann auf Walther Lieson?«
»Weil Hans Selinger als solcher nicht mehr existiert«, entgegnete Luttmann. »Er ist nach der Wende untergetaucht, und schon damals nahm man an, dass er unter falschem Namen irgendwo im Westen ein neues Leben begonnen hat.«
Nicht irgendwo, dachte Verhoeven. Hier ...
»Wie der Zufall so spielt, nicht wahr?«, bemerkte Goldstein, dessen Gedanken in die gleiche Richtung gingen.
»Es gibt Leute, die behaupten, es gebe keine Zufälle«, sagte Monika Zierau.
»Sondern?«, fragte Hinnrichs, der Realist. »Schicksal?«
Die Psychologin lächelte, als ob sie den Leiter des KK 11 bei einer entlarvenden Äußerung ertappt hätte. »Warum nicht?«
»Selinger wird ganz sicher einen plausiblen Grund gehabt haben, dass er ausgerechnet in diese Stadt gekommen ist«, wich Hinnrichs einer Antwort auf diese unbequeme Frage mit unmissverständlicher Deutlichkeit aus. »Falls er überhaupt hier ist.«
»Natürlich ist er das«, entgegnete Goldstein, und einmal mehr störte Verhoeven die übergroße Sicherheit, mit der der Unterhändler Dinge als gegeben voraussetzte, die bislang in keinster Weise bewiesen waren. »Und Ylva Bennet hat ihn gesehen.«
»Nach allem, was man über ihn weiß, war beziehungsweise ist Hans Selinger ein lupenreiner Opportunist«, sagte Luttmann. »Seine Familie war religiös und ließ ihn konfirmieren, doch Selinger trat aus der Kirche aus, kaum dass er für sich selbst entscheiden konnte. Sein Führungsoffizier bezeichnet ihn in einer stasiinternen Beurteilung als Zahlenmenschen, einen, den keine Ideale umtreiben, sondern der aus purem Kalkül heraus handelt. Nichtsdestotrotz oder vielleicht auch gerade deswegen scheint er ein überaus effektiver Zulieferer von Informationen gewesen zu sein.« Die Augen des jungen Kriminaltechnikers glitten über den Monitor. »Hans Selinger sei ehrgeizig, habe ein ausgeprägtes Talent, andere richtig einzuschätzen, und darüber hinaus eine große Vorliebe für militärische Strukturen, schreibt sein Führungsoffizier weiter.« Luttmann wandte sich wieder zu den anderen um. »Außerdem lasse er sich erfreulicherweise nicht durch persönliche Gefühle oder Sympathien ablenken.«
»Mit anderen Worten: Der Typ ist eiskalt«, konstatierte Hubert Jüssen, der nahezu ununterbrochen telefonierte, die Gespräche der anderen aber offenbar trotzdem aufmerksam zu verfolgen schien.
»So könnte man das auch ausdrücken«, nickte Luttmann. Er saß inzwischen auf einem Bürostuhl mit Rollen, auf dem er noch kleiner aussah, als er ohnehin schon war. Wo er den Stuhl aufgetrieben hatte, wusste niemand. »Sein Vater hat mit ihm gebrochen, als er die Kirche verließ, und Selinger hat laut Akte niemals versucht, den Kontakt wieder aufleben zu lassen. Selbst dann nicht, als sein Vater an Krebs erkrankte und im Sterben lag.«
Verhoeven schauderte, als für den Bruchteil einer Sekunde wieder Schmitz’ feistes Gesicht vor ihm aufblitzte. Der schiefe Mund seines Pflegevaters, der sich bemühte, ihm irgendetwas zu sagen, das er nicht hören wollte. Jetzt bist du derjenige, der ins Bett pisst ...
»Der Kerl war ein echtes Herzchen, was?«, brummte Hinnrichs, und Verhoeven hatte ein wenig Mühe, sich klarzumachen, dass er von Selinger sprach. Nicht von Schmitz ...
»Allerdings.« Goldstein schaute in seine leere Kaffeetasse hinunter. »Und nach der Wende ist er einfach verschwunden?«
»Tja, er wusste anscheinend sehr genau, warum«, entgegnete sein Mann für alles, was mit Bildern und Fakten zu tun hatte. »Nach der Geschichte mit Ylva Bennet ging Selingers Karriere steil bergauf, und er hatte mit Sicherheit die eine oder andere Leiche im Keller, über die er nach der Wende hätte stolpern können.«
Verhoeven musste an etwas denken, das Goldstein zu Walther Lieson gesagt hatte: Ach, kommen Sie schon. Sie werden doch wohl irgendeine Leiche im Keller haben. Jeder Mensch hat das ... Zugleich spürte er, dass er sich in diesem Zusammenhang auch noch an etwas anderes erinnern müsste. Er hatte den vagen Eindruck, dass es etwas war, das Ylva Bennet gesagt hatte, aber ganz sicher war er nicht.
»Beim Sturm auf die Stasi-Zentrale war Selinger übrigens noch im Gebäude«, riss Luttmanns Stimme ihn aus seinen Grübeleien. »Und einer von denen, die beim Anblick der Demonstranten vor dem Fenster allen Ernstes eine – wie es hinterher so schön hieß – theoretische Bereitschaft zum Schießen bekundet haben. Später
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