Schattenriss
begründeten dieselben Leute ihren Verzicht auf Waffengewalt dann mit dem Argument, dass sie sich gegen 300 000 Menschen einfach keine realistische Chance ausgerechnet hätten.«
»Als ob sie noch explizit darauf hinweisen müssten, dass sie nicht gerade Menschenfreunde gewesen sind«, bemerkte Hinnrichs kopfschüttelnd.
Luttmann rollte auf seinem Stuhl ein Stück vom Monitor weg und sah zu den Kollegen am Tisch hinüber. »Und dieser denkwürdige vierte Dezember war zugleich der Tag, an dem Hans Selinger zum letzten Mal gesehen wurde.«
»Aber Ylva Bennet war ganz offensichtlich der Meinung, ihn wiedergesehen zu haben«, griff Verhoeven etwas auf, das zuvor bereits Goldstein geäußert hatte.
»Und zwar im Herbst letzten Jahres in der überfallenen Filiale«, ergänzte dieser.
»Wahrscheinlich hat Frau Bennet ihrem Sohn bei irgendeiner Gelegenheit von dieser Begegnung erzählt«, führte Verhoeven den Gedanken weiter.
»Woraufhin der Sohn beschloss, seine Mutter zu rächen, und fälschlicherweise annahm, Hans Selinger sei Walther Lieson?« Monika Zierau blickte mehr als skeptisch drein.
»Die wirklich interessante Frage ist, warum er das annahm«, brummte Goldstein.
»Weil seine Mutter ihm den Betreffenden gezeigt hat«, entgegnete Verhoeven.
Ich habe zufällig aufgeschnappt, wie der Mann etwas zu seiner Begleiterin sagte , nickte eine imaginäre Inger Lieson. Warten Sie ... Ja, er sagte wörtlich: Bist du ganz sicher? Und die Frau antwortete: Ich möchte gehen.
Goldstein runzelte die Stirn. »Warum soll Ylva Bennet ihren Sohn auf die Idee gebracht haben, dass Lieson sein Mann ist?«, fragte er. »Denn er ist es ja definitiv nicht.«
»Vielleicht hat sie ihn verwechselt«, kam Hinnrichs seinem Untergebenen mit einem spontanen Vorschlag zu Hilfe. »Immerhin scheint die Frau ja ziemlich verwirrt zu sein.«
Verhoeven blickte nachdenklich über den mit Fotos und Faxen übersäten Couchtisch hinweg. Da war schon wieder etwas, das ihn beschäftigte. Irgendetwas, das Inger Lieson im Zusammenhang mit Ylva Bennet geäußert hatte. Er schloss die Augen und dachte nach. Ein Mann und eine Frau, Mutter und Sohn. Eine Sparkassenfiliale. Und ein Empfang ...
Ich weiß nicht mehr genau, worum es ging . Aber Walther war einer der Ehrengäste, ein paar seiner Kollegen und Freunde waren da.
Verhoeven stutzte.
Ein paar Kollegen von Walther Lieson waren bei jenem Empfang zugegen gewesen, zu dem auch Ylva Bennet mit ihrem Sohn erschienen war.
Kollegen und Freunde ...
Die Frau ist mir aufgefallen, weil ich das Gefühl hatte, dass sie meinen Mann anstarrt .
Und wenn Ylva Bennet in Wahrheit gar nicht Walther Lieson angestarrt hat?, dachte Verhoeven. Was, wenn jemand bei ihm gestanden hätte, in dieser Situation? Jemand, den Ylva Bennet bereits in der überfallenen Filiale gesehen und wiedererkannt hatte und der zu Liesons beruflichem oder privatem Umfeld gehörte? Und was, wenn Maik Voigt seine Mutter schlicht und einfach falsch verstanden hatte?
Er unterbreitete den anderen, was er dachte, und fügte hinzu:
»Unter unseren Geiseln sind zwei Männer, die in etwa Hans Selingers Alter haben: Horst Abresch und Quentin Jahn. Beide gehören zu Walther Liesons direktem Umfeld, und theoretisch könnte Ylva Bennet einem von beiden im vergangenen Herbst in der Bank begegnet sein, wobei Abresch als stellvertretender Filialleiter hier wohl die wahrscheinlichere Variante wäre.«
»Nicht unbedingt«, widersprach ihm Monika Zierau. »Auch Quentin Jahn hält sich mit schöner Regelmäßigkeit in der überfallenen Filiale auf. Nach meinen Informationen kommt er jeden Abend kurz vor Schalterschluss, um die Tageseinnahmen seines Ladens auf das Konto der Firma einzuzahlen. Pünktlich wie ein Uhrwerk.«
»Und bezeichnenderweise stammt er auch noch aus der ehemaligen DDR«, ergänzte Luttmann.
Hinnrichs schüttelte nachdenklich den Kopf. »Wenn das stimmt«, sagte er, »hätte Maik Voigt den Mann, hinter dem er her ist, längst in seiner Gewalt ...«
»Warten Sie«, sagte Verhoeven. »Bevor wir weiter spekulieren, lassen Sie mich zuerst etwas Grundlegendes abklären.«
Er stand auf und verließ den Raum.
Zu seiner Erleichterung fand er Inger Lieson auf Anhieb. Sie trat mit einem Arm voller benutzter Handtücher aus der Gästetoilette und blickte ihn aufmunternd an. »Brauchen Sie irgendwas?«
Verhoeven verneinte. »Ich habe nur eine Frage.«
»Ja?«
»Auf diesem Empfang, bei dem Ihnen die unbekannte Frau und ihr Begleiter
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