Schattenriss
an jedem Stoppschild auch tatsächlich zum Stillstand kamen. Allerdings handelte sie hierbei weniger aus Rücksichtnahme oder Pflichtgefühl als aus der Angst heraus, einen Unfall und damit einen Haufen Kosten zu verursachen. Nicht, dass Walther es sich nicht spielend hätte leisten können, ihr ein neues Auto zu kaufen, falls sie den Audi zu Schrott fuhr. Aber es war eben Walther, der sich so etwas leisten konnte, nicht sie. Und deshalb tat sie alles, um das Risiko zu minimieren.
Sie hielt an einem Zebrastreifen, um eine Frau mit zwei kleinen Kindern über die Straße zu lassen. Die dunkelhaarige Mutter erinnerte sie entfernt an Gunnel, ihre Schwester, die drei Söhne von drei verschiedenen Männern hatte. Und wie um dieser Misere noch die Krone aufzusetzen, schien Gunnels aktueller Freund nicht gerade zimperlich zu sein, was die Durchsetzung seiner so genannten Bedürfnisse betraf. Zumindest wenn man den Horrorgeschichten Glauben schenkte, die Ingers Vater im Zuge ihrer allwöchentlichen Telefonate zum Besten gab.
Seltsamerweise fand Inger trotz allem, dass ihre Schwester nicht halb so müde und unglücklich aussah wie sie selbst, und sie fragte sich oft, woran das liegen mochte. Wenn sie das Leben, das sie führte, objektiv betrachtete, fand sie nichts, das daran nicht gestimmt hätte. Sie war gesund, besaß ein ganzes Portemonnaie voller Kreditkarten, und was immer sie auch zu welchem Preis kaufte – ihr Mann fragte nie nach dem Grund der Anschaffung. Manchmal wäre es ihr fast lieber gewesen, wenn er irgendwann einmal gesagt hätte: Dreihundert Euro für einen Haarschnitt? Hast du den Verstand verloren? Aber genau wie seine Golfbrüder ihre Doggen oder Weimaraner ganz selbstverständlich in den teuersten Hundesalon der Stadt führten und ein kleines Vermögen für krokolederne Halsbänder und Designer-Hundesofas und Regencapes von Harrods ausgaben, schien Walther zu glauben, dass er seiner Frau die bestmögliche Pflege und Ausstattung schuldig war.
Ich müsste glücklich sein, dachte sie.
Und doch ...
Irgendetwas genügte nicht. Da war etwas, das definitiv falsch lief in ihrem Leben.
Der Gedanke erschreckte sie, und wie um sich abzulenken, blickte sie auf ihre Hände hinunter, die glatt und gepflegt auf dem ledernen Lenkrad lagen. Sie war jetzt achtunddreißig und begann langsam, aber sicher, sich alt zu fühlen. Und das, obwohl sie lange Zeit um ein Vielfaches jünger ausgesehen hatte, als sie tatsächlich gewesen war. Mit zwanzig hatte sie sich geärgert, wenn sie beim Zigarettenkaufen ihren Ausweis vorzeigen musste, um ihre Volljährigkeit unter Beweis zu stellen. Und selbst noch mit Mitte dreißig war sie mühelos als Medizin- oder Jurastudentin durchgegangen.
In jüngster Zeit allerdings hatte sie das Gefühl, rapide zu altern. Fast so, als habe sie einen Rückstand aufzuholen.
Ihre Finger tasteten nach dem Pflaster, das die Rötung an ihrem Unterarm bedeckte, und sie überlegte, ob sie es abziehen oder lieber noch ein paar Stunden auf der frisch gelaserten Stelle belassen sollte. Nach der Arbeit war sie bei ihrem Hautarzt gewesen. Zumindest bezeichnete sich der smarte Mittvierziger mit dem asiatisch anmutenden Kittel und der doppelt verstärkten Brille, die seine Eulenaugen bis zur Unkenntlichkeit verzerrte, als Hautarzt. Doch obwohl Immanuel Gent sein »Dr. med.« sogar in großen, geschwungenen Lettern auf seiner Praxistür verewigt hatte, konnte sich Inger des Eindrucks nicht erwehren, dass Medizin im eigentlichen Sinn des Wortes in Dr. Gents Denkstrukturen nur eine untergeordnete Rolle spielte. Sie wusste um die beiden Wartezimmer, über die seine Praxis verfügte. Und sie hatte auch mitbekommen, dass manche Patienten drei Monate oder länger auf einen Termin warten mussten, obwohl sie wegen eines akuten Ekzems oder einer fragwürdigen Hautveränderung anriefen.
Fragte man hingegen nach einem Biolifting oder einer Hyalurontherapie, konnte man noch am selben Tag vorbeikommen, vorausgesetzt, man beantwortete die Standardfrage der Assistentin: »Aber Sie wissen schon, dass das nicht von der Kasse übernommen wird?« mit einem gelassen-zahlungskräftigen »Ja natürlich, kein Problem«.
Und genau das hatte Inger getan. Nicht, weil sie es tatsächlich so furchtbar eilig gehabt hätte, den Zeichen der Zeit entgegenzuwirken, sondern um Dr. Gent quasi im Kielwasser einer Unterspritzung ihrer Nasobialfalten gleich auch noch den winzigen, schuppenden Pigmentfleck an ihrem Unterarm zeigen zu können,
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