Schattenriss
die Arme schließen kann und ihn trösten und ihm all das Liebe sagen, das sich in ihr aufgestaut hat in diesen endlosen Monaten. Es schmerzt wie die Hölle, auch nur an ihn zu denken, aber sie will sich diese Hölle auch nicht ersparen. Sie hat den vagen Eindruck, dass sie wichtig ist, diese Hölle. Eine offene Wunde, die sie bei Bewusstsein hält, ein wild pochender Moloch, der zwischen ihr und dem Wahnsinn liegt.
Hin und wieder stellt sie sich die Familie vor, zu der sie ihn gegeben haben. Ein Ehepaar mittleren Alters, aufrechte Sozialisten natürlich, erprobte, linientreue Linke. Der Mann mit einer eckigen kleinen Brille unter einem fahlen Scheitel, die Frau rundlich, aber unfruchtbar und deshalb meist unleidlich. Sie nennt sie »die Hubers«, weil sie es leichter findet, an Menschen zu denken, die einen Namen tragen. Herr und Frau Huber also, aus Cottbus. ER ein hohes Tier im Gaskombinat Schwarze Pumpe, SIE halbtagsbeschäftigt im Schreibbüro irgendeines Parteibonzen.
Wenn sie in den kurzen Lücken zwischen zwei Kulturbeuteln die Augen schließt, kann sie sehen, wie Frau Huber nach getaner Arbeit im Garten ihres Hauses lümmelt, die feisten Schenkel wohlig untergeschlagen und eine Tasse feinsten Westkaffee vor sich auf dem wächsernen Tischtuch. Sie malt sich aus, wie sich die kleinen, nichtssagenden Schweinsäuglein unter den rotbraunen Augenbrauen sehnsüchtig auf den Laufstall richten, den irgendein »Onkel Karl« oder »Onkel Hermann« für den unerwarteten Nachwuchs der Hubers zusammengezimmert hat, und wie dann das Kind, ihr Kind, ihr Sohn, seine um Liebe buhlende Ersatzmutter mit dem verächtlichsten aller Blicke aus seinen blanken Babyaugen bedenkt.
Dann lächelt sie.
Lächelt hinauf gegen die niedrige Decke, die ganz aus fleckigen Gipsplatten zu bestehen scheint, weil sie weiß, dass der Tag kommen wird, an dem dieses Baby, an dem ihr Sohn spüren wird, dass er am falschen Platz ist. Und manchmal, wenn sie lange genug wach ist, fragt sie sich, was er tun wird, wenn es so weit ist ...
DRITTER TEIL
Wiesbaden, 14. März 2008
1
Als Verhoeven und Goldstein das Vernehmungszimmer verließen, wurden sie bereits von Werner Brennicke erwartet.
Die Tür zum Nebenraum stand offen, und Verhoeven schloss daraus, dass der BKA-Mann die Befragung des Bankers zumindest in Teilen mit angehört hatte.
Jens Büttner lümmelte hinter seinem Boss an der Wand, und ihm war deutlich anzumerken, wie sehr er sich auf das freute, was seiner Meinung nach nun folgen würde.
Doch Brennicke wahrte zumindest nach außen hin die Form.
»Auf gute Zusammenarbeit«, sagte er, indem er Goldstein flüchtig die Hand reichte, und Verhoeven fiel auf, dass es genau dieselben Worte waren, die Monika Zierau ein paar Stunden zuvor verwendet hatte. Bloß, dass die Psychologin diesen Satz ganz und gar ironisch gemeint hatte. »Glauben Sie, dass die Entführer ernst machen und die Geiseln töten, wenn wir nicht spuren?«
Goldstein nickte. »Ja, kein Zweifel.«
»Also zahlen wir?«
»Ich fürchte, das ist nicht der Punkt«, entgegnete der erfahrene Unterhändler mit einem Lächeln, das steinern wirkte. Steinern und irgendwie auch müde.
Dabei hat es gerade erst angefangen, dachte Verhoeven.
»Was meinen Sie?«, fragte Brennicke, der sich von Goldsteins Antwort offenbar irritiert fühlte.
»Dass es letztendlich nicht darauf ankommen wird, ob wir zahlen oder nicht«, antwortete Goldstein. »Schon deshalb, weil wir uns äußerst schwertun werden, die zweite Forderung dieser Leute zu erfüllen.«
Verhoeven hob alarmiert den Kopf.
Und auch Werner Brennicke horchte auf. Er blickte sich fragend nach Büttner um. Doch sein Adlatus zuckte nur mit den Achseln. »Ist uns da irgendwas entgangen?«
»Die Übergabe«, erwiderte Goldstein lapidar. »Wie Sie wissen, besteht dieser Teja darauf, dass der Filialleiter das Geld persönlich überbringt.«
»Sie meinen ...?«
»Ich meine, dass Walther Lieson ganz klar ein Teil der Abmachung ist, die diese Leute mit uns treffen wollen«, nickte Goldstein.
Und allmählich schien nun auch Brennicke ein wenig nervös zu werden. »Okay«, sagte er so vorsichtig, als erwarte er, aufs Glatteis geführt zu werden. »Hatten Sie denn schon Gelegenheit, mit dem Mann darüber zu sprechen?«
Verhoeven konnte sehen, dass Goldstein ebenso gut wie er selbst wusste, worauf der BKA-Mann hinauswollte. Trotzdem dachte der studierte Soziologe überhaupt nicht daran, Brennicke zu schonen.
»Worüber?«,
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