Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
ich nicht darauf aus war, irgendwem zu nah zu treten, würden heute Nacht niemanden besänftigen.
»Was denkst du, wird passieren?«, fragte ich Kastor, der die Lage zweifelsohne viel besser einschätzen konnte wie ich.
»Sobald es dämmert und die anderen hier auftauchen, werden wir herausfinden, wie die Lager unter den Schattenschwingen aussehen. Wenn wir Glück haben, wird die Auseinandersetzung zwischen dir und Asami entschieden. Wenn wir Pech haben, weitet sich das Ganze zu einem Flächenbrand aus. Shirin hätte etwas besonnener vorgehen können, auch wenn ich ihre Nachgiebigkeit dir gegenüber verstehen kann. Junge Schattenschwingen verfügen über ihren ganz eigenen Zauber, dem kann man sich nur schwer entziehen.«
Unter anderen Umständen wäre ich begierig gewesen, noch mehr über die Wirkung zu erfahren, die wir Neulinge auf die alten Schattenschwingen hatten. Jetzt aber war das eine Nebensächlichkeit, die mich im Augenblick herzlich wenig interessierte. »Ein Flächenbrand? Das ist ja Wahnsinn! Ich will doch bloß ein gemeinsames Leben mit Mila. Wie kann das plötzlich einen riesengroßen Tumult auslösen? Himmel, vielleicht hätte Shirin mich einfach mal über die Dimension dessen, was ich da losgetreten habe, aufklären können, bevor sie mich ins offene Messer laufen lässt.«
»Samuel, beruhige dich.«
Das war leichter gesagt, als getan. Während unseres Gesprächs waren immer wieder Schattenschwingen über unsere Köpfe in Richtung Ruine geflogen. Bei zwölf hatte ich aufgehört mitzuzählen. Wie ein Getriebener nahm ich meinen Pfad zwischen den Bäumen wieder auf und spielte mit dem Gedanken, zum Meer und in die Menschenwelt zu fliehen. Doch ich verwarf ihn, noch ehe Kastor mich am Oberarm packte und mich so zum Anhalten zwang.
»Die Zeit war reif für eine Veränderung, du bist nur der Schlüssel dazu. Die Zeichen auf deinem Arm. Dass ich dich im Weißen Licht entdeckt und seither das Gefühl habe, meine alte Wächtertätigkeit dort nicht wiederaufnehmen zu können. Shirins Entscheidung, dir zu vertrauen und sich gegen die Wächter aufzulehnen. Ich besitze zwar nicht die Gabe, einen Blick in die Zukunft zu werfen, aber ich bin mir sicher, dass sich etwas Ungutes zusammenbraut. Wir müssen die Kluft zwischen uns und unser altes Misstrauen überwinden, wenn wir Schattenschwingen überleben wollen. Umgehend.«
Stocksteif blieb ich stehen und starrte in Kastors dunkelgraue Augen, die entgegen seiner sonstigen Art vor Aufregung geweitet waren. Auch er verspürte Angst, aber nicht vor dem, was auf der Versammlung geschehen könnte.
»Wovor fürchtest du dich?« Meine Frage war nicht mehr als ein Flüstern, aber auch das erschien mir immer noch zu laut.
»Vor den Schatten der Vergangenheit. Dass sie uns trotz aller Vorsichtsmaßnahmen erneut in etwas verwandeln, das wir nicht sein sollten.«
Unwillkürlich wich ich einen Schritt vor Kastor zurück. Allein das Wort Schatten legte sich wie ein Würgegriff um meine Kehle und gab mir eine Ahnung davon, wovor sich mein Freund noch mehr fürchtete als vor der anstehenden Auseinandersetzung. Nachdenklich betrachtete ich die Narben auf meinem Arm. Zum ersten Mal fragte ich mich, ob mein Vater mir mit den Zeichen, die er mir ins Fleisch geschnitten hatte, etwas Schlimmeres als einen Bannspruch hatte auferlegen wollen. Wie weit reichten die Schatten der Vergangenheit bereits? Beeinflussten sie die Gegenwart mehr, als irgendeiner bislang geahnt hatte?
Die Spannung zwischen Kastor und mir löste sich in dem Moment auf, als Shirin im Fichtenwald auftauchte und sich zu uns gesellte. Mit einem Nicken verabschiedete sich Kastor. Vermutlich wollte er uns die Chance geben, ungestört über die Versammlung und die Bedeutung zu sprechen, die sie mittlerweile bekommen hatte. Ich verspürte keine Lust, Shirin vorzuwerfen, dass sie mich in dem Glauben gelassen hatte, es ginge ausschließlich um meinen Sonderstatus. Dabei war ihr die Sorge durchaus anzusehen, auch wenn sie von sich aus kein Wort darüber verlor. Wenigstens unterließ sie es, ihre Krallen aneinanderzuklicken.
Ich seufzte. »Wenn die Sache schiefgeht und die Versammlung sich gegen mich stellt, wird Asami mir dann bloß kräftig in den Hintern treten oder wird er mir nach Samurai-Manier den Kopf abschlagen?« Das Ganze sollte eigentlich ein Scherz sein, aber Shirin blickte mich so ernst an, dass ich meine Worte sogleich bereute.
»Die Versammlung hat mittlerweile eine viel größere Bedeutung
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